Der Prinz von Atrithau
seinem Stamm groß geworden, der ihn hervorgebracht hatte und in dem zu sterben ihm bestimmt war, war Cnaiür doch nicht selbstverständlich in dessen Wertvorstellungen hineingewachsen, sondern hatte sich bewusst für seine Herkunft entschieden. Seit dreißig Jahren versuchte er nun, seine Gedanken und Leidenschaften auf den engen Wegen der Utemot zu halten. Doch trotz seiner Beharrlichkeit und all seiner Fähigkeiten witterten seine Stammesbrüder bei ihm stets Falschheit. Im menschlichen Umgang begrenzen die Erwartungen anderer jede Bewegung, und dieser Tanz duldet kein Zögern. Die Utemot aber bemerkten seine aufflackernden Zweifel und begriffen, dass er versuchte, einer von ihnen zu sein. Wer aber versuchte, zu den Scylvendi zu gehören, der gehörte per se nicht dazu.
Also bestraften sie ihn seit dreißig Jahren mit Geflüster und skeptischen Blicken.
Dreißig Jahre Scham und Ablehnung, dreißig Jahre Qual und Angst hatten einen furchtbaren Hass in Cnaiür wachsen lassen. Letztlich hatte er seinen Weg gefunden – einen einsamen Weg des Wahnsinns und der brutalen Mordlust.
Er hatte das Blutvergießen zu seinem Reinigungsritus gemacht. Wenn Krieg Gottesdienst war, dann war Cnaiür der frömmste und damit auch bedeutendste Scylvendi. Er sagte sich, seine Waffen seien sein Ruhm. Er war Cnaiür von Skiötha, der grausamste Kämpfer auf Erden.
Das sagte er sich immer wieder, obwohl keines seiner Swazonds ein Zeichen von Ehre war, sondern sie alle den von ihm so ersehnten Tod von Anasûrimbor Moënghus symbolisierten. Denn Irrsinn war ja nichts anderes als eine überwältigende Ungeduld, ein innerer Zwang, immer wieder nach dem zu greifen, was die Welt einem hartnäckig vorenthielt. Moënghus musste nicht nur sterben, er musste auf der Stelle sterben – ob es sich dabei nun um Moënghus handelte oder nicht.
In seiner Raserei hatte Cnaiür die ganze Welt zum Ersatz für Moënghus erklärt. Und er rächte sich an ihr, da er sich nicht an Moënghus zu rächen vermochte.
So genau diese Analyse auch war – sie half Kellhus wenig bei dem Versuch, sich den Häuptling der Utemot gefügig zu machen. Ständig schob Cnaiürs Wissen den Bemühungen des Dûnyain einen Riegel vor. Eine Zeit lang befürchtete Kellhus sogar, Cnaiür würde sich ihm nie beugen.
Dann hatten sie Serwë aufgelesen – einen Ersatz ganz anderer Art.
Von Beginn an hatte Cnaiür sie zum Beweis dafür gemacht, dass er den Sitten und Gebräuchen der Scylvendi anhing. Serwë löschte Moënghus aus, den Kellhus wegen seiner Ähnlichkeit stets so präsent hatte sein lassen. Sie war die Zauberformel, die den Fluch des Moënghus aufheben würde. Und Cnaiür verliebte sich – allerdings nicht in sie, sondern in die Vorstellung, sie zu lieben. Denn diese Liebe bot ihm Gewähr dafür, Anasûrimbor Moënghus nicht zu lieben.
Oder gar dessen Sohn.
Was daraus folgte, war fast elementar gewesen.
Kellhus verführte Serwë in dem Wissen, dem Barbaren dadurch die eigene, dreißig Jahre zurückliegende Verführung durch Moënghus erneut vor Augen zu stellen. In Serwë erlebte Cnaiürs unbändiger Hass bald seine Auslöschung und seine Wiederholung zugleich. Der Steppenbewohner begann, sie zu schlagen – nicht allein, um zu demonstrieren, wie sehr er die Frauenverachtung der Scylvendi verinnerlicht hatte, sondern auch, um sich selbst zu verletzen. Er bestrafte sie dafür, seine Sünden zu wiederholen, obwohl er sie zugleich liebte und Liebe als Schwäche verachtete.
So türmte sich, wie von Kellhus beabsichtigt, Widerspruch auf Widerspruch. Er hatte entdeckt, dass seine Umgebung merkwürdig anfällig für Widersprüche war – vor allem, wenn sie konkurrierende Leidenschaften auslösten. Nichts schien so fest in ihren Herzen verankert. Von nichts waren sie so besessen.
Kaum war Cnaiür dem Mädchen völlig erlegen, hatte Kellhus sie ihm einfach genommen, dabei allerdings genau gewusst, dass der Utemot alles dafür geben würde, sie zurückzubekommen, ohne auch nur zu begreifen, warum.
Nun aber war ihm Cnaiür von Skiötha zu nichts mehr Nutze.
Der Mönch erklomm eine spärlich bewachsene Düne. Wind peitschte ihm durchs Haar und drückte ihm das weiße Gewand an den Leib. Das Meneanor-Meer erstreckte sich bis dorthin, wo die Erde in die große Leere der Nacht überzugehen schien. Direkt unter sich entdeckte er das einfache Rundzelt des Scylvendi. Jemand musste es umgetreten und zertrampelt haben. Weit und breit war kein Feuer zu sehen.
Einen Moment lang
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