Der Prinz von Atrithau
Achamian!
Ohne Anleitung des Nichtmenschen Quya hatten die Anagogischen Orden des Gebiets der Drei Meere nie gelernt, die so genannten Analogien zu übertreffen. All ihre Hexenkunst – mochte sie noch so mächtig und erfinderisch sein – entstand aus der Kraft obskurer Vereinigungen, aus dem Widerhall zwischen Wort und Ereignis. Sie brauchten Hilfsmittel – Drachen, Blitze oder Sonnen zum Beispiel –, um die Welt zu verbrennen. Anders als Achamian waren sie nicht in der Lage, die Essenz der Dinge zu beschwören, also das Brennen selbst. Sie wussten nichts von den Abstraktionen.
Während sie Poeten waren, war er Philosoph. Sie waren nur aus Bronze, er dagegen aus Eisen. Und das würde er ihnen zeigen.
Achamian schnaubte und sah den Hochmeister aus trüben Augen zornig an.
Ich werde dich brennen sehen!
»Und doch«, fuhr Eleäzaras fort, »muss uns die Vergangenheit in diesen stürmischen Zeiten nicht die Zukunft diktieren. In diesen Mauern sind deine Qual, dein Tod noch nicht sicher… Zwischen uns ist noch viel im Fluss.«
Eleäzaras löste sich von den anderen, machte fünf anmutige, gemessene Schritte und blieb neben Achamian stehen.
»Um dir das zu beweisen, werde ich deinen Knebel entfernen und dich reden lassen, statt dich mit all den Zwangsmitteln zu verhören, die wir bisher bei deinen Ordensbrüdern angewandt haben. Aber ich warne dich – jeder Versuch, uns anzugreifen, ist zum Scheitern verurteilt.« Er zog eine schmale Hand aus seinem mit Edelsteinen bestickten Ärmel und zeigte auf den Mosaikfußboden.
Dort war ein großer roter Kreis zu sehen, der von stilisiert dargestellten Tieren umgeben war: eine Schlange, die ihren Schwanz verschlang.
»Wie du siehst«, sagte Eleäzaras milde, »bist du über einen Uroborianischen Kreis gekettet… Bereits der Versuch, eine Zauberformel zu sprechen, bewirkt sofort unermessliche Schmerzen. Glaub es mir – ich hab das schon mit angesehen.«
Genau wie Achamian. Die Scharlachspitzen schienen über viele mächtige Instrumente zu verfügen.
Der Hochmeister trat ein paar Schritte zurück, und ein Eunuch kam aus dem Halbdunkel geschlurft. Mit fetten, flinken Fingern zog er dem Hexenmeister den Knebel heraus. Achamian atmete tief ein, beugte den Kopf vor und spuckte kräftig aus, um den widerlichen Geschmack loszuwerden.
Die Scharlachspitzen beobachteten ihn erwartungsvoll, wenn nicht gar ängstlich.
»Nun?«, fragte Eleäzaras.
Achamian blinzelte. »Wo sind wir hier?«, krächzte er.
Ein breites Lächeln spaltete den grauen Spitzbart des Hochmeisters.
»In Iothiah natürlich.«
Achamian verzog das Gesicht, nickte und betrachtete dann nachdenklich den Uroborianischen Kreis unter seinen Füßen.
Es war keine Frage des Muts, sondern nur ein leichtfertiger Moment, eine mutwillige Vernachlässigung der Konsequenzen.
Er sagte zwei Worte…
… und erlitt Höllenqualen.
Weißglühende Fäden wanden und verzweigten sich unter seiner Haut, als flösse nicht Blut, sondern Sonnenlicht durch seine Adern.
Er schrie und schrie, bis es schien, seine Augen müssten platzen und seine Zähne bersten und mit einem Geräusch auf den Mosaikboden fallen, als schlüge Porzellan auf Porzellan.
Dann glitt er wieder in seine Alpträume zurück, in eine weit ältere Folter also, die schon viel länger andauerte.
Kaum war das Schreien erstorben, musterte Eleäzaras die ohnmächtige Gestalt. Sogar angekettet und nackt schien dieser Mann bedrohlich.
»Er ist zäh«, meinte Iyokus mit einem frechen Unterton, der zu fragen schien: Was hattest du denn erwartet?
»Stimmt«, sagte Eleäzaras und kochte dabei innerlich. Eine Verzögerung nach der anderen! Es wäre wunderbar, dem Kerl die Gnosis abzuringen, aber das wäre ein unerwartetes Geschenk. Unbedingt erfahren musste er allerdings, was in jener Nacht in den Katakomben unter den Andiamin-Höhen geschehen war und was dieser Mann über die Hautkundschafter der Cishaurim wusste.
Direkt oder indirekt hatte dieser Kerl jeden Vorteil zunichte gemacht, den sie bei der Schlacht auf den Ebenen von Mengedda errungen hatten: Erst hatte er zwei ihrer Hexenmeister in der Sareotischen Bibliothek getötet (darunter Yutirames, einen alten und mächtigen Verbündeten von Eleäzaras), dann dem fanatischen Proyas Einfluss verschafft. Wenn der Prinz nicht gedroht hätte, den Tod seines »verehrten alten Tutors« zu rächen, hätte Eleäzaras den Scharlachspitzen nie befohlen, sich dem Heiligen Krieg auf dem Südufer anzuschließen.
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