Der Prinz von Atrithau
Holz trugen. Mit geübter Bewegung setzten die ausgemergelten Männer die Sänfte auf den Boden.
Plötzlich war es so still, dass Cnaiür meinte, den Wind durch den Umiaki streichen zu hören.
Ein alter Mann in purpurn wallenden Gewändern trat aus der Sänfte und sah sich mit gebieterischer Verachtung um. Der Wind ging durch seinen weißen, samtigen Bart. Unter seinen geschminkten Brauen glitzerten dunkle Augen.
»Ich bin Eleäzaras«, sagte er mit klangvoller Patrizierstimme, »Hochmeister der Scharlachspitzen.« Er ließ den Blick über die verblüffte Menge schweifen und fasste dann Gotian ins Auge.
»Ihr werdet den, der sich Kriegerprophet nennt, vom Baum schneiden und mir übergeben.«
»Dann ist die Sache wohl geklärt«, meinte Ikurei Conphas, und der Hohn in seinem Blick strafte seinen ernsten Ton Lügen.
»Akka?«, flüsterte Proyas. Achamian sah ihn verblüfft an. Einen Moment lang hatte der Prinz geklungen wie der zwölfjährige Knabe von einst.
Seltsam, wie plötzlich und ungeregelt die Erinnerung aufsteigt und die Gegenwart wie ein hungriger Mob attackiert.
Hatte Esmenet ihn nicht gestern noch geliebt? Hatte sie ihn nicht gestern erst gebeten, sie nicht zu verlassen und nicht in die Sareotische Bibliothek zu gehen? Er begriff, dass er sein Leben lang immer denken würde, das wäre erst gestern gewesen.
Er sah zum Eingang, weil er dort aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen hatte. Es war Xinemus… Iryssas führte ihn über die Schwelle und auf die vollbesetzten Ränge. Der Marschall hatte seine komplette Rüstung an, trug also den schienbeinlangen Rock eines Ritters aus Conriya, Kettenhemd und Harnisch. Sein Bart war geölt und geflochten und fiel wie ein Lockenfächer auf seine Brust. Im Vergleich zu den ausgezehrten Männern des Stoßzahns wirkte er kräftig, imposant und bei aller Exotik doch vertraut wie ein Prinz aus dem fernen Nilnamesh.
Der Marschall geriet zweimal auf den Rängen ins Stolpern, und Achamian konnte in seiner blinden Miene Qual sehen – und eine seltsam anrührende Sturheit: die Entschlossenheit, seinen Platz unter den Mächtigen wieder einzunehmen.
Achamian schluckte bei diesem beklemmenden Anblick.
Xin…
Atemlos sah er zu, wie der Marschall sich zwischen Gaidekki und Ingiaban niederließ und dann geradeaus ins Leere blickte, als säßen die Hohen Herren vor und nicht unter ihm. Achamian erinnerte sich der angenehmen Abende in der Küstenvilla von Xinemus in Conriya und dachte daran, wie sie Anpoi getrunken, mit Austern gefülltes Wildhuhn gegessen und endlose Gespräche über alte und tote Dinge geführt hatten. Und plötzlich begriff er, was er zu tun hatte.
Er musste eine Geschichte erzählen.
Esmenet hatte ihn erst gestern geliebt. Doch auch die Welt stand vor dem Ende!
»Ich habe gelitten«, rief er unvermittelt, und ihm schien, als vernähme er seine Stimme mit den Ohren von Xinemus.
Sie hörte sich kräftig an.
»Ich habe gelitten«, wiederholte er und stand auf. »Genau wie wir alle. Die Zeit des Taktierens und Posierens ist vorbei. ›Wer die Wahrheit spricht‹, sagt der Letzte Prophet, ›hat nichts zu befürchten – auch wenn er daran zugrunde geht.‹«
Er spürte skeptische, neugierige und entrüstete Blicke.
»Es überrascht euch sicher, einen Hexenmeister, einen Unreinen aus der Heiligen Schrift zitieren zu hören. Wahrscheinlich beleidigt es sogar einige von euch. Nichtsdestoweniger werde ich die Wahrheit sagen.«
»Hast du uns also vorher angelogen?«, fragte Conphas mit einem Anflug von Schwermut.
»Nicht mehr als Ihr oder sonst jemand im Saal«, rief Achamian. »Denn wir alle ergehen uns in Taktik und Rhetorik und spielen das verfluchte Jnan, obwohl so viele Menschen sterben… Und wenige, Conphas, beherrschen dieses Spiel besser als Ihr!«
Irgendwie hatte er den Ton getroffen, der die Männer verstummen und ihm aufmerksam zuhören ließ – den Ton also, den Kellhus so mühelos beherrschte.
»Die Leute denken, wir Mandati seien trunken von Legenden und verwirrt von Geschichte. Das ganze Gebiet der Drei Meere lacht über uns. Kein Wunder, da wir bei den Geschichten, die ihr euren Kindern abends erzählt, weinen und uns den Bart raufen. Aber wir sind hier nicht im Gebiet der Drei Meere. Wir sind in Caraskand, wo der Heilige Krieg – belagert vom Zorn des Padirajah in der Falle sitzt und hungert. Sehr wahrscheinlich sind dies die letzten Tage eures Lebens. Denkt daran! Denkt an den Hunger, die Verzweiflung und die panische
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