Der Prinz von Atrithau
aus Liebe zu ihm verlassen und sich – nachdem er sie vor den Mauern von Momemn ignoriert hatte – dem Tross angeschlossen.
Was blieb ihr übrig? Hätte sie alles aufs Spiel setzen sollen, nachdem sie sich endlich gefunden hatten? Außerdem hatte sie Sumna wirklich seinetwegen verlassen und sich um seinetwillen dem Tross angeschlossen. Und wer schweigt, lügt nicht.
Vielleicht hätte sie ihm ja von all diesen Dingen erzählt, wenn er noch derselbe Achamian gewesen wäre, der sie in Sumna verlassen hatte.
Achamian war immer… schwach gewesen, doch seine Schwäche war Folge seiner Ehrlichkeit. Wo andere Männer verstummten und auf Distanz gingen, sprach er, und das gab ihm eine seltsame Stärke, die ihn von fast allen Männern unterschied, die Esmenet kannte. Und von vielen Frauen. Aber inzwischen war er anders. Verzweifelter.
In Sumna hatte sie oft behauptet, er ähnele den Verrückten auf dem Ecosium-Markt, die ständig mit lauter Stimme Gräueltaten und Verhängnis prophezeiten. Wenn sie an einem vorbeikamen, hatte sie immer gesagt: »Guck mal, schon wieder einer deiner Freunde«, und sich damit für seine Bemerkung: »Guck mal, schon wieder einer deiner Freier« revanchiert, die er stets machte, wenn sie furchtbar feiste Männer sahen. Das würde sie jetzt nicht mehr wagen. Achamian war noch immer Achamian, aber er hatte den leeren, müden Blick der Irren vom Ecosium-Markt bekommen – und ihre unruhigen Augen, als ob er dauernd eine furchtbare Gestalt sah, die kein anderer zu sehen vermochte.
Was er sagte, erschreckte sie natürlich, und wie hätte sie nicht daran glauben sollen? Mehr noch aber erschreckte sie, wie er es sagte: sein Faseln und unberechenbares Lachen, seine boshafte Unnachgiebigkeit und abgrundtiefe Reue.
Er wurde langsam verrückt. Das spürte sie. Aber ihr war klar, dass nicht die Entdeckung der Rathgeber, nicht einmal die Gewissheit der Zweiten Apokalypse ihm zusetzte, sondern dieser Mann… Anasûrimbor Kellhus.
So ein sturer Narr! Warum lieferte er ihn nicht an die Mandati aus? Wenn Achamian kein Hexenmeister wäre, würde sie sagen, er sei verhext. Kein Argument konnte ihn umstimmen. Nichts!
Achamian meinte, Frauen hätten keinen Sinn fürs Prinzipielle. Für sie manifestiere sich die Welt im Individuellen… Wie hatte er sich ausgedrückt? Ach ja, dass für Frauen das Konkrete über dem Abstrakten stehe. Von Natur aus verliefen die Bahnen der weiblichen Seele – so Achamian – parallel zu denen, die das Allgemeine erfordere. Die weibliche Seele sei nachgiebiger, leidenschaftlicher und fürsorglicher als die männliche. Folglich sei es schwieriger für sie, das Allgemeine zu erkennen, das sich ihrer Wahrnehmung wie ein Ast im Dickicht entziehe. Das sei auch der Grund, warum Frauen Egoismus oft mit Anstand verwechseln. Und genau das tat sie allem Anschein nach.
Für Männer hingegen, deren Ambitionen so viel weiter gingen und oft etwas Gewaltsames hatten, bedeuteten Prinzipien eine allgegenwärtige Last, ein Joch, das sie entweder geduldig schleppten oder abwarfen. Anders als Frauen konnten Männer immer erkennen, was sie tun sollten, weil es sich so gewaltig von dem unterschied, was sie wollten.
Zuerst hatte Esmenet ihm beinahe geglaubt. Wie sonst hätte sie sich seine Bereitschaft erklären können, ihrer beider Liebe aufs Spiel zu setzen?
Dann aber erkannte sie, dass das Prinzipielle sie so maßlos ärgerte, nicht eine dämliche weibliche Verwechslung von Hoffnung und Frömmigkeit. Hatte sie sich ihm nicht verschrieben und ihr Leben, ihre Begabung aufgegeben?
Hatte sie nicht schließlich eingelenkt?
Und was sollte er dafür im Gegenzug aufgeben? Einen Mann, den er erst seit ein paar Wochen kannte – einen Fremden! Zudem einen, den er nach seinen eigenen Prinzipien ausliefern sollte. »Vielleicht bist du es ja, der eine weibliche Seele hat!«, wollte sie ausrufen, konnte es aber irgendwie nicht. Wenn Männer den Frauen die Welt ersparen mussten, dann mussten Frauen den Männern die Wahrheit ersparen – als seien beide Geschlechter für immer und ewig die Hälften ein und desselben wehrlosen Kindes.
Esmenet hielt inne, um durchzuatmen, und sah Achamian und Kellhus ein paar Worte wechseln. Sie waren nicht laut genug, um zu ihr zu dringen, mussten aber lustig gewesen sein, denn Achamian lachte auf. Ich muss es ihm beibringen. Irgendwie muss ich es ihm beibringen!
Auch wenn man sich treiben ließ: Eine Strömung gab es immer.
Immer gab es etwas, wogegen man kämpfen
Weitere Kostenlose Bücher