Der Prinz von Atrithau
strahlend blauen Augen. »Und Barbarei ist nur ein Wort für etwas Fremdes, das bedrohlich wirkt.«
Verunsichert schaute Esmenet auf das hohe Gras rings um ihre Sandalen. Dann blickte sie kurz zu Achamian und sah, dass er sie von dort, wo er mit Serwë kauerte, beobachtete. Er lächelte wissend und fuhr fort, sich über die wippenden Blüten auszulassen.
Er hat gewusst, dass dies passieren würde.
Dann sagte Kellhus quasi aus dem Nichts: »Du bist also eine Hure gewesen.«
Erschrocken blickte sie auf und bedeckte aus einem Reflex heraus die Tätowierung auf dem linken Handrücken. »Und wenn?«
Kellhus zuckte die Achseln. »Erzähl mir etwas davon.«
»Zum Beispiel?«, stieß sie hervor.
»Wie war es, mit Männern ins Bett zu gehen, die du nicht kanntest?«
Sie wollte sich empören, doch sein Benehmen hatte etwas unwiderstehlich Unschuldiges. Seine Offenheit verwirrte sie – und ließ ihren Widerstand schmelzen.
»Nett, jedenfalls manchmal«, sagte sie. »Mitunter allerdings unerträglich. Aber man muss sich anstrengen, um durchs Leben zu kommen. Das ist nun mal der Lauf der Welt.«
»Wir haben uns offenbar missverstanden«, sagte Kellhus. »Ich wollte nicht wissen, wie es dir gefallen hat, mit Unbekannten zu schlafen – ich wollte wissen, womit sich diese Erfahrung vergleichen lässt.«
Sie räusperte sich, schaute verlegen weg, sah Achamian Serwës Finger streicheln, unterdrückte eine Anwandlung von Eifersucht und lachte nervös.
»Was für eine merkwürdige Frage…«
»Hast du sie dir nie gestellt?«
»Nein… Ich meine doch, natürlich, aber…«
»Und wie hast du sie dir beantwortet?«
Verwirrt, verängstigt und seltsam erregt hielt sie inne.
»Nach Wolkenbrüchen war die Straße unter meinem Fenster von Wagenspuren bisweilen tief zerfurcht… Manchmal hab ich dann am Fenster gesessen, beobachtet, wie die Räder sich durch die Furchen quälten, und gedacht: So ist mein Leben.«
»Eine Spur, die andere gezogen haben?«
Esmenet nickte und blinzelte ihre Tränen fort.
»Und bei anderer Gelegenheit?«
»Huren sind Schauspielerinnen, müsst Ihr wissen. Wir führen ein Stück auf…« Sie zögerte und sah ihm in die Augen, als könnte sie dort die richtigen Worte finden. »Ich weiß, dass der Stoßzahn lehrt, wir erniedrigten uns und missbrauchten die Göttlichkeit unseres Geschlechts. Manchmal empfinde ich das auch so, aber nicht immer… Sehr oft hab ich Männer auf mir, die wie Fische nach Luft schnappen und denken, sie hätten mich unterworfen, ja mir eine Kerbe geschlagen – und ich habe Mitleid mit ihnen. Mit ihnen, nicht mit mir. Ich bin dann… eher eine Diebin als eine Hure. Ich halte diese Männer zum Narren, betrüge sie, sehe mir dabei selbst zu und habe den Eindruck, ich beobachte mein von blank geputztem Silber reflektiertes Spiegelbild… Das fühlt sich an, als wäre ich… als wäre ich…«
»Als wärst du frei«, sagte Kellhus.
Esmenet lächelte, runzelte dabei aber die Stirn. Sie war beunruhigt, so intime Details verraten, und erschrocken, ihre Einsichten in so poetische Worte gefasst zu haben, aber auch seltsam erleichtert, als habe sie sich von einer großen Last befreit. Sie zitterte beinahe. Und Kellhus schien so… nah.
»Ja…« Sie versuchte, ihrer Stimme durch ein Schlucken das Zittern zu nehmen. »Aber wie…«
»Also, wir haben einiges über die heilige Pemembis erfahren«, sagte Achamian, der nun mit Serwë zu ihnen trat. »Und ihr?« Er warf Esmenet einen bedeutsamen Blick zu.
»Wie es ist, der Mensch zu sein, der man ist«, sagte Kellhus.
Mitunter ließ Achamian den Blick in die Ferne wandern und wusste einfach, dass er zweitausend Jahre zuvor diesen oder einen ähnlichen Weg gekommen war. Dann erstarrte er, als würde er einen Löwen im Unterholz erblicken, und sah entgeistert umher.
Seswatha war einmal durch diese Hügel gekommen, als er aus dem belagerten Asgilioch geflohen war und mit hundert anderen einen Weg durch die Berge gesucht hatte, um dem gefürchteten Tsuramah zu entkommen. Achamian sah über die Schulter nach Norden und erwartete beinahe, dass sich schwarze Wolken am Horizont ballten. Er ertappte sich dabei, nach imaginären Wunden zu tasten und Bilder einer Schlacht wegzublinzeln, in der er nicht gefochten hatte: Bilder der Niederlage bei Mehsarunath nämlich. Er hatte den Eindruck, sich nur noch reflexartig fortzubewegen, aller Hoffnungen und Ambitionen beraubt zu sein und nur um das nackte Überleben zu kämpfen.
Irgendwann
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