Der Prinz von Atrithau
hatte Seswatha die anderen verlassen, um allein zwischen sturmgepeitschten Felsen zu wandern. Irgendwo hier hatte er eine kleine, geschützte Höhle gefunden, wo er sich niederkauerte, die Knie umklammerte, aufschrie, jammerte, den Tod erflehte… Am nächsten Morgen hatte er die Götter dafür verflucht, noch am Leben zu sein.
Achamian ertappte sich dabei, wie er Kellhus ansah. Seine Hände zitterten, und seine Gedanken waren völlig durcheinander.
Besorgt fragte ihn Esmenet, was los sei.
»Nichts«, brummte er schroff.
Sie lächelte und drückte seine Hand, als ob sie ihm glaubte. Aber sie wusste Bescheid. Zweimal erwischte er sie dabei, wie sie den Prinzen von Atrithau tief erschrocken ansah.
Im Laufe des Nachmittags beruhigte Achamian sich langsam wieder. Je weiter sie sich von Seswathas Spuren entfernten, desto besser konnte er sich anscheinend verstellen. Ohne es zu merken, hatte er die anderen zu weit vom Heerlager weggeführt, als dass sie vor der Dunkelheit dorthin hätten zurückkehren können. Also schlug er vor, einen Ort zum Übernachten zu suchen.
Das Violett der Abendwolken ließ den Kontrast zwischen dem Himmel und den steilen Berghängen längst nicht mehr so stark ausfallen wie gegen Mittag. Bei heraufziehender Dunkelheit entdeckten sie auf einem gedrungenen Felsvorsprung einige blühende Eisenbäume. Sie wanderten darauf zu und erklommen einen zerfurchten Hang. Kellhus bemerkte die Ruinen als Erster: die eingestürzten Überreste einer alten Kapelle der Inrithi.
»Ob das eine Art Heiligtum war?«, fragte sich Achamian halblaut, als sie sich durch Gestrüpp und hohes Gras einen Weg zu den Grundmauern bahnten. Was von weitem wie eine Baumgruppe ausgesehen hatte, entpuppte sich als ausgewachsenes Wäldchen. Die Eisenbäume standen in Reih und Glied, und ihre dunklen, lila und weiß blühenden Äste wehten im warmen Abendwind.
Sie schlängelten sich zwischen großen Steinblöcken hindurch, kletterten über eingestürzte Mauern und entdeckten einen Mosaikboden, auf dem Inri Sejenus dargestellt war. Sein Kopf war unter Schutt begraben, doch seine ausgestreckten Arme mit den von einem Heiligenschein umgebenen Händen waren deutlich zu sehen. Eine Zeit lang liefen die vier einfach nur umher, erkundeten das Gelände, trampelten Pfade durch das wuchernde Unkraut und staunten – wie Achamian vermutete – darüber, was so alles in Vergessenheit geriet.
»Hier ist nirgendwo Asche zu sehen«, bemerkte Kellhus, nachdem er ein paar Löcher in die sandige Erde getreten hatte. »Sieht aus, als wäre die Kapelle von allein eingestürzt.«
»Dabei ist sie so schön«, sagte Serwë. »Wie konnte man das nur zulassen?«
»Als Gedea an die Fanim verloren ging«, erklärte Achamian, »gaben die Nansur diese Gegend auf – vermutlich, weil sie sie kaum gegen Übergriffe verteidigen konnten. Ruinen wie die hier sind wahrscheinlich in der ganzen Gegend verstreut.«
Sie sammelten abgestorbene Sträucher, die Achamian mit einer Zauberformel in Brand setzte. Erst da merkte er, dass das Feuer genau auf dem Bauch des Letzten Propheten brannte. Bald saßen sie auf Felsblöcken zu beiden Seiten des Mosaiks und setzten das Gespräch fort, wobei die Flammen mit zunehmender Dunkelheit stets heller wurden.
Sie tranken unverdünnten Wein und aßen Brot, Lauch und gepökeltes Schweinefleisch. Achamian übersetzte die Texte, die auf dem Mosaik zu sehen waren. »Die Marrucees«, sagte er, als er ein stilisiertes Siegel unter die Lupe nahm, das hochscheyische Worte aufwies. »Diese Kapelle gehörte einst den Marrucees, einer alten Bruderschaft der Tausend Tempel. Wenn ich mich recht entsinne, wurde sie vernichtet, als die Fanim Shimeh einnahmen. Also wurde diese Anlage lange vor dem Verlust Gedeas verlassen.«
Natürlich stellte Kellhus gleich mehrere Fragen zu den Bruderschaften. Da Esmenet die labyrinthische Struktur der Tausend Tempel viel besser kannte als er, ließ Achamian sie antworten: Sie war immerhin mit Priestern aller erdenklichen Bruderschaften, Sekten und Kulte im Bett gewesen.
Er musterte die Schnallen seiner Sandalen, während er ihr zuhörte, und stellte fest, dass er neues Schuhwerk brauchte. Dann ergriff ihn ein tiefer Schmerz – das hoffnungslose Leid eines Mannes, dem sogar die kleinsten Dinge des Alltags übelwollten. Wo sollte er in diesem Irrsinn Sandalen finden?
Er entschuldigte sich und schlenderte hinterm Feuer zwischen den eingestürzten Mauern entlang.
Dann saß er eine Weile am Rand der
Weitere Kostenlose Bücher