Der Prinz von Atrithau
über sie hinweg und riss viele von ihnen in die Luft.
Mog-Pharau war unterwegs.
Der König von Kyranae klammerte sich an Seswathas Schultern, doch der Hexenmeister konnte seinen Schrei nicht hören. Stattdessen vernahm er durch die Kehlen von hunderttausend Sranc die Stimme des Nicht-Gottes:
WAS SIEHST DU?
Sehen? Was mochte er damit meinen?
ICH MUSS WISSEN, WAS DU SIEHST!
Der König wandte sich ab und griff nach dem Heronspeer.
SAG ES MIR!
Geheimnisse… Geheimnisse! Nicht einmal der Nicht-Gott konnte Mauern gegen das Vergessene errichten! Seswatha sah den unseligen Schutzschild im Auge des Wirbelsturms leuchten – einen mit chorischen Schriftzeichen versehenen Sarkophag.
WAS BIN –
Achamian erwachte schreiend. Seine zitternden Hände waren zu Klauen verkrampft.
Doch eine zärtliche Stimme sprach beruhigend auf ihn ein, und sanfte Hände liebkosten sein Gesicht, strichen ihm die schweißnassen Haare aus den Augen und wischten ihm Tränen von den Wangen.
Esmi.
Er lag lange in ihren Armen, zitterte mitunter und bemühte sich, die Augen für das Hier und Jetzt offen zu halten.
»Ich habe über Kellhus nachgedacht«, sagte sie, als sein Atem sich beruhigt hatte.
»Hast du von ihm geträumt?«, neckte Achamian sie halbherzig und räusperte sich.
Esmenet lachte. »Nein, du Dummkopf. Ich hab doch gesagt…«
WAS SIEHST DU?
Ein Stimmenchor hatte das gefragt, und sein Einsatz war kurz und heftig gewesen. Achamian schüttelte den Kopf, fragte: »Wie bitte?«, und lachte unsicher. »Ich muss Schlaf in Augen und Ohren haben. Was hast du gesagt?«
»Dass ich von Kellhus nicht geträumt, sondern nur über ihn nachgedacht habe.«
»Und worüber genau?«
Irgendwie spürte er, dass sie ihren Kopf zur Seite neigte, wie sie es immer tat, wenn sie darum kämpfte, etwas auszudrücken, für das ihr die Worte fehlten. »Über seine Art zu reden. Ist dir nicht…«
ICH KANN NICHT SEHEN!
»Nein«, keuchte er. »Daran ist mir nie etwas aufgefallen.« Er hustete schwer.
»Das kommt davon, wenn man immer auf der rauchigen Seite des Feuers sitzt«, meinte sie. Das war eine ihrer üblichen Mahnungen.
»Altes Fleisch schmeckt geräuchert eben besser«, gab er darauf wie üblich zurück und blinzelte Schweiß aus den Augen.
»Kellhus jedenfalls…«, fuhr sie mit leiserer Stimme fort. Zeltwände sind dünn, und das Lager war voller Leute. »Da alle wegen der Schlacht und dem, was er Prinz Saubon gesagt hat, über ihn munkeln, ist mir…«
SAG ES MIR!
»… vor dem Einschlafen aufgefallen, dass fast alles, was er sagt, entweder nah oder fern ist.«
Achamian schluckte und fragte: »Wie meinst du das?« Mehr bekam er nicht heraus.
Esmenet lachte. »Ich weiß nicht recht. Ich hab dir doch mal erzählt, dass er mich gefragt hat, wie es sei, eine Hure zu sein und mit fremden Männern zu schlafen und so. Wenn er so redet, scheint er einem nah, unangenehm nah zu sein, bis man merkt, dass er absolut ehrlich und zurückhaltend ist. Damals dachte ich ja, er wäre auch einer dieser Dreckskerle.«
WAS BIN ICH?
»Worauf willst du eigentlich hinaus, Esmi?«
Esmenet schwieg einen Moment lang verärgert, ehe sie fortfuhr: »Und dann wieder scheint er atemberaubend weit weg zu sein, wenn er redet – als stünde er auf einem fernen Berg und könnte alles oder fast alles überblicken…« Sie schwieg erneut, und die Länge dieser Pause ließ Achamian erkennen, dass er ihre Gefühle verletzt hatte. Dann spürte er, dass sie die Achseln zuckte. »Wir anderen halten uns beim Reden irgendwo in der Mitte auf, er dagegen… Und jetzt das! Er hat, was gestern geschah, vorhergesehen. Und mit jedem Tag, der vergeht…«
ICH KANN NICHT SEHEN!
»… scheint er beim Reden noch etwas näher dran und noch etwas weiter weg zu sein. Das macht mir… Akka? Du zitterst ja! Du bebst geradezu!«
Er rang nach Atem. »Ich kann hier nicht bleiben, Esmi.«
»Wie meinst du das?«
»An diesem Ort!«, rief er. »Ich kann hier nicht bleiben!«
»Sch! Alles wird gut. Ich hab gestern Abend Soldaten sagen hören, das Lager werde heute verlegt. Weg von den Toten, von der Gefahr von Miasmen und von…«
SAG ES MIR!
Achamian schrie auf und hatte Mühe, nicht den Verstand zu verlieren.
»Sch, Akka, sch!«
»Haben sie gesagt, wohin das Lager verlegt wird?«, keuchte er.
Esmenet hatte sich aus ihren Decken gestrampelt, kniete nun über Achamian und legte die Handflächen auf seine Brust. Sie wirkte beunruhigt, sehr beunruhigt. »Sie haben etwas von Ruinen
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