Der Prinzessinnenmörder
getan. Hätte ihr gern gesagt, sie seien dem Täter auf der Spur. Aber Tina wusste, dass sie es nicht waren. Sie gab sich einen Ruck und ging weiter.
Wenig später erreichten sie eine Hügelkuppe. Dahinter kam der Hof in Sicht. In zehn Minuten würden sie dort sein. Wallner bahnte sich langsam seinen Weg durch das konturlose Weiß. Er hatte es nicht eilig. Die Psychologin hatte gesagt, die Eltern hätten scheinbar gefasst auf den Tod ihrer Tochter reagiert. Allerdings sei die Beziehung zu dem Mädchen außergewöhnlich eng gewesen. Das Ehepaar Dichl war lange kinderlos geblieben, hatte es vergeblich mit In-vitro-Fertilisationen versucht, bis die Krankenkasse das nicht mehr bezahlte, hatte anschließend vier weitere künstliche Befruchtungen aus eigener Tasche bezahlt, bis schließlich ein anderer Arzt, den sie aufsuchten, festgestellt hatte, dass es wohl an Herrn Dichl lag. Die Eheleute hätten sich dann um die Adoption eines Kindes bemüht und nach zwei Jahren endlich einen Säugling zugewiesen bekommen – eben Gertraud. Nach dem jahrelangen, verzweifelten Kampf um die Schwangerschaft sei das Bedürfnis, das adoptierte Kind zu schützen, noch ausgeprägter gewesen als üblich. Gertraud Dichl habe in für bäuerliche Verhältnisse außergewöhnlicher Überbehütung gelebt. Die Eltern seien andererseits kaum in der Lage, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen oder normale Trauer zuzulassen. Da sei eine Therapie angebracht. Aber das sei wohl noch ein langer Weg.
Als sie auf den Hof kamen, war niemand zu sehen. Auch Geräusche fehlten. Bis auf das Klirren einer Kette. Im Stall hatte sich ein Tier bewegt. Trotz der Kälte lag ein warmer Geruch von Kuhstall in der Luft. Der vordere Wohnteil des Hofes war weiß verputzt, im ersten Stock lief ein mit Zierschnitzereien durchbrochenes, dunkel eingelassenes Geländer um den Balkon. Der Stalltrakt war im Erdgeschoss mit Wackersteinen gemauert, darüber war eine Holzkonstruktion. Die Stirnseite des Hofes zeigte nach Osten. Das ließ darauf schließen, dass der Hof alt war, vielleicht zweihundert Jahre. Damals lag den Bewohnern daran, das Haus vor dem Wetter zu schützen, das von Westen kommt. Später hatte man begonnen, die Höfe nach Süden auszurichten, der Sonne entgegen, allerdings um den Preis einer Flanke auf der Wetterseite.
Der Schnee fiel immer noch langsam und beständig. Auf dem Hof mochten an die dreißig Zentimeter liegen. Hier war die letzten Stunden nicht mehr geräumt worden. Tina ging zur Stalltür und öffnete sie. Die Luft war warm und feucht. Fünfundzwanzig Kuhleiber wärmten den Raum. Der Stall machte den Eindruck, als sei er ausgemistet worden. Tina warf einen Blick auf die Kuheuter. Die Kühe waren gemolken worden. Ketten klirrten, Kühe schnaubten, etwas bewegte sich in der Ecke. Eine Katze verschwand hinter einer Boxenverschalung.
»Hier ist keiner«, sagte Tina, als sie zu Wallner zurückkam. Wallner stand unter der Rampe, die zum Heustadel führte, der, wie in dieser Gegend üblich, über den Stall gebaut war. Wallner betrachtete den Boden zu seinen Füßen. In einer geschützten Ecke breitete sich ein roter Fleck bis dorthin aus, wo der Schnee anfing.
»Blut?«, fragte Tina.
Wallner nickte. Sie gingen nach vorne zum Eingang des Wohntrakts und kamen am Küchenfenster vorbei. Auch die Küche war leer. Neben der Eingangstür an der Stirnseite des Hauses war eine tibetische Gebetsmühle angebracht. Wallner betrachtete sie eine Weile. Dann drehte er sie vorsichtig.
»Das bringt nichts mehr«, sagte Tina und klopfte an die Tür. Niemand antwortete. Die Tür war nicht abgeschlossen. Sie gingen hinein. Im Haus erwartete sie ein Flur, von dem mehrere Zimmer abgingen. Links die Wohnstube, rechts war ein Büro, die nächste Tür links führte in die Küche. Alle Zimmer waren verwaist. In einem alten Hüttenofen brannte ein Holzfeuer und erwärmte die Küche auf gute dreißig Grad. Dass hier niemand anzutreffen war, nahm Wallner mit Bedauern zur Kenntnis. Wallner betätigte eine Kuhglocke, die an der Wand gleich neben der Tür angebracht war und eintretenden Gästen dazu diente, sich bemerkbar zu machen. Auch die Kuhglocke vermochte niemanden herbeizurufen. Reglos standen sie im Flur und lauschten den nachlassenden Schwingungen der Kuhglocke. Leise Musik war zu hören. Sie kam vom Ende des Ganges. Dort befand sich die Kellertür, die Tina jetzt vorsichtig öffnete. Modergeruch schlug ihr entgegen. Die Musik kam von unten. Es war Chris de Burgh.
Im
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