Der Professor
vorbeugte, und sie hörte ein Flüstern, das einem Zischen glich. »Die Antwort auf die erste Frage lautet
achtzehn
«, sagte sie.
Hinter der Binde blinzelte Jennifer erstaunt. Sie begriff, dass diese Bemerkung nur für sie bestimmt war. Sie hörte das Knistern der Kleidung, als die Frau sich ein kleines Stück zurückbewegte. Es trat eine Pause ein, Jennifer nahm starr wie ein Roboter wieder die Haltung des Schulmädchens an und starrte geradeaus, wenn auch nur ins Schwarz unter der Maske.
»Gut. Nummer 4, sag uns, wie alt du bist.«
Jennifer zögerte einen Moment, dann platzte sie heraus: »Ich bin achtzehn.« Eine Lüge, dachte sie, die ihr einigen Schmerz ersparte. Die Frau fuhr fort.
»Weißt du, wo du bist?«
»Nein.«
»Weißt du, weshalb du hier bist?«
»Nein.«
»Weißt du, was mit dir passieren wird?«
»Nein.«
»Weißt du, welchen Tag wir haben? Oder vielleicht das Datum, die Uhrzeit oder auch nur, ob es Tag oder Nacht ist?«
Sie schüttelte den Kopf, zwang sich, damit aufzuhören, und sagte: »Nein.« Diesmal klang ihre Stimme ein wenig gebrochen, als handelte es sich bei dem Wort »nein« um kostbares Porzellan, das beim kleinsten Patzer in Stücke zerbrach.
»Wie lange bist du schon hier, Nummer 4?«
»Ich weiß nicht.«
»Hast du Angst, Nummer 4?«
»Ja.«
»Hast du Angst davor zu sterben, Nummer 4?«
»Ja.«
»Willst du weiterleben?«
»Ja.«
»Was wirst du tun, um weiterzuleben?«
Jennifer überlegte. Es konnte nur eine Antwort geben. »Alles.«
»Gut.«
Die Stimme der Frau schien vielleicht einen bis anderthalb Meter entfernt zu sein. Jennifer hegte den Verdacht, dass sie hinter die Kamera getreten war, damit sie ihre Antworten direkt in die Linse sprach. Sie schöpfte ein wenig Zuversicht.
Ich werde gefilmt.
Die Fähigkeit, das, was mit ihr passierte, auch nur bruchstückhaft zu begreifen, half. Sie wusste, dass ihr Bild irgendwohin ging.
Irgendwo
wurde sie in diesem Moment
von irgendjemandem
beobachtet. Ihre Muskeln spannten sich an.
Sie haben keine Ahnung, wie stark ich sein kann,
dachte sie. Dann kamen ihr Zweifel.
Ich weiß nicht, wie stark ich sein kann.
Sie hätte am liebsten geweint und der Verzweiflung, dem Drang, loszuschluchzen, einfach nachgegeben. Oder aber sich gewehrt, nur dass sie nicht wusste, wie.
»Steh auf, Nummer 4.« Sie gehorchte. »Zieh deinen Slip herunter.«
Sie konnte nichts dagegen machen, doch ihre Hände zögerten. Zugleich spürte Jennifer, dass die Frau schon die Muskeln spielen ließ, um sie wieder zu schlagen; sie tat, was die Frau verlangte. Sie sagte sich, es sei nicht anders als wie bei einem Arztbesuch oder in einer Umkleidekabine nach einem schweißtreibenden Training. Ihre Nacktheit hatte nichts Beschämendes an sich. Sie spürte, dass die Kamera sie wie mit der Lupe erfasste, und fühlte sich gedemütigt. Sie war den Tränen nahe, als die Frau sagte: »Du darfst dich wieder setzen.« Sie griff nach dem knappen Höschen, zog es hoch und setzte sich wieder hin. Es war, als wäre ihr etwas abgeschnitten worden. Als der Mann sie gezwungen hatte, sich nackt zu waschen, hatte sie sich nicht so schrecklich gefühlt wie jetzt.
»Wovor hattest du, bevor du in diesen Raum kamst, am meisten Angst?«
Sie musste überlegen. Vor Scham arbeitete ihr Kopf nicht richtig.
»Größte Angst, Nummer 4?« Der Ton der Frau war unnachgiebig.
Jennifer zermarterte sich den Kopf, um eine Antwort zu finden.
»Spinnen. Ich hasse Spinnen. Als ich klein war, hat mich eine Spinne gebissen, mein Gesicht ist dick angeschwollen, und seitdem …«
»Das ist eine Sache, vor der du Angst hast, Nummer 4. Aber was macht dir am meisten Angst?«
Jennifer zögerte. »Manchmal hatte ich dann Angst, ich könnte in einem Raum voller Spinnen eingeschlossen sein.«
»Das kann ich bewerkstelligen, Nummer 4 …«
Jennifer schauderte unwillkürlich. Sie wusste, dass die Frau nicht zögern würde. Sie vermutete, dass sie nur an der Oberfläche dessen, wozu die Frau fähig war, gekratzt hatte. Und sie rechnete damit, dass der Mann noch schlimmer war.
»Aber was macht dir am meisten Angst, Nummer 4?«
Immer noch hämmerte dieselbe Frage auf sie ein.
Was war falsch an meiner Antwort?
Das eine oder andere Wort steckte ihr im Hals, und sie hustete. Sie hatte eine Idee. »Dass ich nie aus der Kleinstadt rauskommen würde, in der ich gewohnt habe, und dass ich für den Rest meines Lebens dort festhängen würde.«
Die Frau schwieg. Jennifer überlegte, ob sie die Frau mit
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