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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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dieser Antwort vielleicht überrascht hatte.
    »Also, Nummer 4, du hast dein Zuhause gehasst?«
    Jennifers Kopf ging heftig auf und nieder, und sie antwortete: »Ja.«
    »Was hast du gehasst?«
    »Alles.«
    Wieder sprach die Frau mit Bedacht. Ihre Stimme hämmerte auf Jennifer ein. Der stetige Rhythmus der Fragen war wie ein Sperrfeuer, das sie im Innersten traf. »Und deshalb wolltest du fliehen, richtig?«
    »Ja.«
    »Willst du immer noch fliehen, Nummer 4?«
    Jennifer glaubte, von dem Schluchzen, das sie unterdrückte, müsste ihr die Brust zerspringen. Sie wusste nicht, ob die Frau meinte, Flucht von zu Hause oder Flucht aus ihrer Zelle. Diese Ungewissheit tat weh. »Ich will einfach nur leben«, sagte sie. Ihre Stimme bebte.
    Die Frau legte eine Pause ein, bevor sie fortfuhr. Die Fragen waren gnadenlos.
    »Was hast du in deinem Leben geliebt, Nummer 4?«
    Sie überkam eine Flut von Kindheitserinnerungen. Mitten im Dunkel ihrer verbundenen Augen sah sie ihren Vater vor sich stehen, nur dass er diesmal am Leben war und ihr mit diesem schiefen Grinsen im Gesicht winkte und sie aufmunterte, zu ihm zu kommen. Sie erinnerte sich an Partys und Spielplätze. Sie sah ganz normale Momente vor sich, wie Picknicks und einen Familienausflug nach Fenway Park zu einem Ballspiel und mit Hot Dogs an einem Nachmittag im Sommer. Einmal war sie bei einer Schulexkursion zu einer nahe gelegenen Farm in einen Pferch gekrochen, in dem neugeborene Hundewelpen an den Zitzen ihrer Mutter saugten, und sie hatte gestaunt, wie weich und winzig und kraftstrotzend das Leben sein konnte. Sie hatte vor sich, wie sie und ihre Mutter, die sie aus gutem Grund nicht mehr lieben konnte, in einem Nationalpark in einem Fluss schwammen, in dem ihnen unter einem kleinen Wasserfall Kaskaden von kaltem Wasser über den Kopf strömten und sie beide die Gänsehaut ignorierten, weil es ein so wundervolles Gefühl war.
    All diese Bilder bestürmten sie wie in einem rasanten Actionfilm hinter der Augenbinde. Sie sog heftig die Luft ein. All diese Gedanken gehörten ihr, und sie wusste, sie musste sie beschützen. »Nichts«, sagte sie.
    Die Frau lachte. »Jeder liebt etwas, Nummer 4. Ich frage dich noch einmal: Was hast du geliebt?«
    Ein Haufen Ideen schoss ihr durch den Kopf. Alle möglichen Bilder wirbelten durcheinander. Eine Flut von Erinnerungen. Sie hatte das Gefühl, dagegen ankämpfen zu müssen, um sie für sich behalten zu können. Sie zögerte einen Moment, bevor sie hastig begann: »Ich hatte mal eine Katze … genauer gesagt, hab ich ein streunendes Katzenjunges gefunden. Es war nass und struppig und hatte sich verirrt. Ich durfte es behalten. Ich hab es ›Socke‹ genannt, weil es weiße Pfötchen hatte. Ich hab es mit Milch gefüttert, und es hat nachts bei mir auf dem Bett geschlafen. Sie war jahrelang mein bester Freund.«
    »Was ist aus Socke geworden, Nummer 4?«
    »Mit sieben Jahren wurde sie krank. Der Tierarzt konnte sie nicht retten. Wir haben im Garten ein Loch gegraben und sie reingelegt. Danach hab ich tagelang geweint, und meine Eltern haben mir angeboten, mir ein neues Kätzchen zu besorgen, aber ich wollte keine neue, ich wollte nur diejenige, die gestorben war.« Sie schwieg einen Moment und fügte hinzu: »So, das war etwas, das ich geliebt habe.«
    »Rührend, Nummer 4.«
    Jennifer wollte gerade antworten:
Du hast es so gewollt,
doch sie durfte nicht noch eine Ohrfeige riskieren. Sie riss sich zusammen und vermied ein spöttisches Grinsen, genoss aber innerlich die Schadenfreude. Die Geschichte mit Socke war von vorn bis hinten erstunken und gelogen.
Keine Katze, du Miststück. Keine tote Katze. Du kannst mich mal.
    »Eine letzte Frage, Nummer 4.« Jennifer rührte sich nicht. Sie wartete. »Bist du noch Jungfrau, Nummer 4?«
    Sie merkte, wie sich ihre Zunge pelzig anfühlte, registrierte den sauren Geschmack auf den Lippen. Sie waren trocken, und sie leckte sich mehrmals darüber. Sie wusste nicht, wie die richtige Antwort lautete. Die Wahrheit hieß
Ja,
aber war es gut, oder war es schlecht, das zu sagen? Sie spürte, wie ihr die Angst hochkroch. Die Andeutung von Sex schnürte ihr die Luft ab.
Sie wollen mich vergewaltigen,
dachte sie.
    »Bist du noch Jungfrau, Nummer 4?«
    Wenn sie nein antwortete, würden sie das irgendwie als Einladung verstehen? Wenn sie damit nahelegte, sie hätte schon Sex gehabt, würden sie das als Freibrief verstehen? War ihre Naivität etwas Gutes oder Schlechtes? Sie hasste es, sich entscheiden

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