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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Körper zu sehen. Nacktheit. Eindeutige Posen. Das ganze Mysterium der Liebe auf eine handfeste, schrille Realität reduziert. Die Liebe um jedes Geheimnis gebracht und auf einen banalen, derben Akt reduziert. »Tommy, tut mir leid, ich versteh’s einfach nicht. Es ist so viel schwerer geworden. Die Dinge fügen sich nicht mehr so zusammen …«
    »Dann kämpf dagegen an, Dad. Mach dich stärker.« Tommys Stimme schien ständig zwischen Junge und Mann zu wechseln, hin und her. »Nimm mehr von diesen Pillen. Vielleicht helfen sie ja. Zwing dich, dir etwas zu merken.«
    Tommy, das Kind, Tommy, der Erwachsene. Adrian fühlte sich zwischen den beiden hin- und hergerissen. »Das versuch ich ja.«
    Einen Moment lang herrschte Schweigen, als dächte Tommy über etwas nach. Adrian wollte ihn so gerne sehen, dass ihm alles vor den Augen verschwamm.
Das ist nicht fair,
dachte er.
Die anderen kann ich sehen, und jetzt kommt Tommy, und er zeigt sich nicht.
Es war ein wenig wie die große Herausforderung, der sich alle Eltern gegenübersehen: Eines Tages haben sie das Kind vor sich, das sie großgezogen haben, und er oder sie ist plötzlich erwachsen und eigenständig und lebt in einer Welt, die einem fremd und rätselhaft erscheint.
Die Menschen, die wir am meisten lieben, werden uns fremd,
dachte er.
    »Dad, wenn du ein Gedicht liest …« Adrian fuhr auf seinem Sitz herum, als könnte er einen Blick auf sein Kind erhaschen, wenn er die Augen nur blitzschnell durch den Raum huschen ließ. »Was genau versuchst du in den Worten zu sehen?«
    Er seufzte. Tommys Stimme schien von weit her zu kommen, und es tat weh, sie zu hören. Er fühlte Nadelstiche in der Haut. »Ich wollte für dich da sein. Ich finde es schrecklich, dass du irgendwo am anderen Ende der Welt gestorben bist und ich nicht für dich da war. Ich finde es schrecklich, dass ich nichts dagegen machen konnte. Ich finde es schrecklich, dass ich dich nicht retten konnte.«
    »Die Gedichte, Dad. Denk an die Gedichte.«
    Wieder seufzte er. Er betrachtete ein Bild von Tommy, das er über seinem Schreibtisch hatte. Von seinem Highschool-Abschluss. Ein Schnappschuss, den er gemacht hatte, als sein Sohn gerade nicht hinsah. Tommy grinste, erfüllt von allen Möglichkeiten, welche die Welt ihm bot, ohne einen Gedanken an den Kummer und die Probleme zu verschwenden, die ein unvermeidlicher Teil davon sind. Adrian hatte fast das Gefühl, als spräche in diesem Moment das Bild mit ihm, nur dass Tommys Stimme sich beharrlich hinter seinem Kopf meldete.
    »Was siehst du in den Gedichten?«
    »Worte. Reime. Bilder. Metaphern. Kunst, die zu Ideen inspiriert. Verführung. Ich weiß nicht, was ich …«
    »Überleg mal, Dad. Wie kann dir ein Gedicht dabei helfen, Jennifer zu finden?«
    »Keine Ahnung. Kann es das denn?«
    »Wieso nicht?«
    Adrian hatte das Gefühl, als sei alles auf den Kopf gestellt. Tommy war ihr einziges Kind gewesen, und Adrian hatte ihn beschützt und ermuntert und gelenkt, und nun schien auf einmal er selbst das Kind zu sein, und Tommy wusste Dinge und er selber nicht. Natürlich verstand er, dass er selbst diese Dinge wusste, doch es war schwer, an sie heranzukommen, und so erschien Tommy, um ihn anzuleiten, auch wenn sein Sohn tot war. Einen Augenblick lang überlegte er:
Sind die Toten immer da, um uns beizustehen?
    »Was siehst du?«
    Er drehte sich wieder zum Computer um. »Nur Bilder.«
    »Nein, Dad, es geht in Wahrheit nicht um das Bild. Genau wie bei einem Gedicht geht es darum, wie das Bild wahrgenommen wird.«
    Adrian sog heftig die Luft ein. Er erinnerte sich an diesen Satz. Jahrelang hatte er an der Uni ein beliebtes Seminar abgehalten,
Angst und ihr Gebrauch in der modernen Gesellschaft,
in dem er das Wesen der Angst nicht nur physiologisch auslotete, sondern auch Exkurse in den Bereich des Horrorfilms oder des Schauerromans einbaute und der Frage nachging, wie die Angst zu einem Bestandteil der Populärkultur gemacht wurde. Es war ein Seminar für Fortgeschrittene im Frühjahrssemester, um das sich die Studenten, nachdem sie allzu viele Abende in den Labors über weißen Mäusen gebrütet hatten, förmlich rissen. Sie hingen an seinen Lippen, wenn Adrian über
Der weiße Hai
und
Freitag, der
13.
oder Peter Straubs
Geisterstunde
dozierte. Tommy hatte den letzten Satz aus seiner Abschlussvorlesung zitiert.
    »Ja, Tommy, ich weiß, aber …«
    »Jennifer, Dad.«
    »Ja, Jennifer, aber wo ist der Zusammenhang …«
    »Dad, denk scharf nach.

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