Der Professor
Konzentrier dich.«
Adrian schnappte sich einen Block von der Ecke seines Schreibtischs. Er nahm einen Stift zur Hand und schrieb:
Jennifer läuft von zu Hause weg.
Jennifer wird von Fremden auf der Straße entführt.
Jennifer verschwindet.
Für Jennifer gibt es keine Lösegeldforderungen.
Jennifer ist verschwunden.
Es stand wie ein Gedicht auf einer Seite. Die vermisste Jennifer. Adrian betrachtete die nackten Gestalten auf dem Bildschirm. Die Models hatten nicht Sex, weil sie sich liebten oder weil sie sich begehrten oder weil sie auch nur Spaß miteinander haben wollten.
Geld. Oder Exhibitionismus. Oder eine Mischung aus beidem.
»Aber sie haben kein Lösegeld gefordert, nicht wahr, Dad?« Tommy sprach jetzt im Flüsterton. Seine Worte schienen irgendwo durch seinen Kopf zu hallen.
»Aber wie kann jemand mit Sex Geld machen …« Adrian sprach nicht weiter. Alle Welt machte Geld mit Sex.
»Zähl eins und eins zusammen, Dad.« Tommy schien ihn geradezu anzuflehen. »Jeder von diesen Leuten ist real. Wie sind sie dahin gekommen? Was versuchen sie zu erreichen? Wer profitiert davon? Wer verliert? Komm schon, Dad! Wenn du dich im Wald verirren würdest, was würdest du dann machen?«
Er kam sich begriffsstutzig und ungebildet vor, als ob er in einem Hirnmorast versinken würde. »Ich müsste irgendwie einen Weg ins Freie finden …«, fing er an, doch Tommy unterbrach ihn.
»Einen Führer. Jemanden, der den geographischen Norden bestimmen kann. Du weißt, wer das kann«, sagte Tommy. »Aber er wird mit den Kenntnissen, die du brauchst, nicht einfach so herausrücken. Nimm dir einen Helfer mit, als Überzeugungshilfe.«
Adrian nickte. Er klappte den Laptop zu und steckte ihn in die Tasche. Er fand seine Jacke und schlüpfte hinein. Er sah auf die Armbanduhr. Es war 6.30 Uhr – ob morgens oder abends, hoffte er sagen zu können, wenn er draußen war. Auch wenn er keine Ahnung hatte, woher, wusste er, dass Tommy ihn nicht begleiten würde. Vielleicht Brian, dachte er. Er sah sich nach Cassie um, denn er konnte ein Wort der Ermunterung gut brauchen.
Sie waren beide viel mutiger als ich,
dachte er.
Meine Frau. Mein Sohn.
Im nächsten Moment merkte er, wie Cassie ihn zog. »Ich komm ja schon, ich komm ja schon«, sagte er, als sei sie ungeduldig. Er erinnerte sich, dass er, als sie jung waren, manchmal in eine psychologische Untersuchung, einen wissenschaftlichen Aufsatz oder eines seiner Gedichte vertieft war und sie in sein Zimmer kam, ihn wortlos bei der Hand nahm und mit einem Nicken und einem Lachen ins Bett holte, wo sie sich hingebungsvoll liebten.
Doch diesmal ging es um ein anderes, viel dringlicheres Anliegen, und er spürte, wie sie ihn unabweislich in diese Richtung zog.
Es war dunkel, und er hörte wütend erhobene Stimmen durch die Haustür. Das Gebrüll kam offenbar vor allem von Mark Wolfe, während seine Mutter jedes Mal in jammervolles Heulen ausbrach. Ein paar Minuten lang horchte er, während er draußen stand und ihm die kalte Nachtluft unter die Haut kroch. Die Tür dämpfte den Wutausbruch gerade so sehr, dass er zwar hören konnte, wie heftig der Streit war, aber nicht verstehen konnte, um welches Thema es ging, auch wenn er sich denken konnte, dass es um den Laptop in seiner Schultertasche ging.
Adrian überlegte, ob er warten sollte, bis sich die Auseinandersetzung legte, klopfte dann aber einfach an die Tür. Das Brüllen verstummte im selben Moment. Er klopfte noch einmal und trat einen Schritt zurück. Er rechnete damit, dass die Wut wie eine Woge über ihn hinwegschwappen würde, sobald die Tür aufging. Er hörte, wie ein Riegelschloss geöffnet wurde, dann flog die Tür auf, und er stand im Licht der Eingangsdiele.
Einen Moment herrschte Schweigen. »Mistkerl«, sagte Mark Wolfe.
Adrian nickte. »Ich hab etwas, das Ihnen gehört«, sagte er.
»Was Sie nicht sagen. Her damit.« Mark Wolfe grapschte nach ihm, als könnte er seinen Laptop wieder in Besitz nehmen, indem er Adrian am Revers packte.
Adrian wusste nicht, wer ihm die Anweisungen ins Ohr schrie –
Brian? Tommy
? –, doch er wich zurück, so dass der Angreifer danebengriff. Außerdem merkte er, dass er plötzlich die Neun-Millimeter-Automatik seines Bruders in der Hand hielt und auf Wolfe richtete. »Ich habe Fragen«, sagte Adrian.
Wolfe zuckte zurück und beäugte die Waffe. Der Anblick des Revolvers schien seine Wut im Keim zu ersticken. »Ich wette, Sie wissen nicht mal, wie man mit dem Ding
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