Der Professor
zugesehen, wie der junge Michael, nachdem sein Jugendstrafenregister gelöscht war, wieder einmal ein Gericht als freier Mann verließ, und gedacht: Das war nicht das letzte Mal. Bis jetzt hatten sich diese Polizisten getäuscht.
Linda und Michael stammten beide aus schwierigen, fragwürdigen Familienverhältnissen, die sie hinter dem dünnen Firnis ihrer Bildung und beruflichen Tätigkeit verbergen konnten. Einser-Schüler, Klassenbester und aufstrebende Geschäftsfrau. Sie konnten sich beide zur intelligenten, leistungsstarken Nachwuchsspitze zählen – die typische Erfolgsstory von Menschen, die sich aus bescheidenen Verhältnissen hochgearbeitet haben. Doch das war nur die Fassade, während sie beide, jeder für sich, wussten, dass es eine Lüge war, weil nur sie selbst zu ihrem wahren Wesen Zugang hatten. Diese Erkenntnisse über sich und einander dämmerten ihnen allerdings erst sehr viel später. Der Abend, an dem sie sich kennenlernten, bot ein Unterrichtsprogramm der besonderen Art.
Die Regeln der Veranstaltung waren klar und einfach: Man musste einen Partner des anderen Geschlechts mitbringen; redete sich mit Vornamen an; der Austausch von Telefonnummern oder E-Mail-Adressen nach der Party war tabu. Sollte man einem der anderen Teilnehmer später einmal aus anderem Anlass wieder begegnen, war man verpflichtet, so zu tun, als hätte man sich nie mit dieser Person auf wilden, pornographischen und öffentlichen Sex eingelassen, sondern sei sich vollkommen fremd.
Alle stimmten diesen Regeln zu. Mit Ausnahme der ersten schrieb man sie alle in den Wind. Um die erste kam man nicht herum, da man sonst an der Tür abgewiesen worden wäre. Es war ein Ort zum Kennenlernen, eine Gelegenheit zur Untreue und zum Exzess. Niemand, der dieses gepflegte Split-Level-Einfamilienhaus in einem Vorstadtviertel betrat, interessierte sich besonders für Regeln.
Es war ein Ort der Widersprüche. Im Vorgarten lagen zwei Kinderfahrräder auf dem Rasen. Auf einem Regalbrett stand ein ganzer Haufen Bücher von Dr. Seuss. In der Küche war eine Schachtel mit Cheerios und Frosted Flakes in die Ecke geschoben, um auf der Arbeitsplatte für einen Spiegel Platz zu machen, auf dem Linien zerstoßenes Kokain als kleine Aufmerksamkeit der Gastgeber warteten. In einem Fernseher im Wohnzimmer liefen Pornos, auch wenn sich kaum einer der ungefähr dreißig Gäste sonderlich für die Filmversion dessen interessierte, was sie gerade selber taten. Die Hüllen fielen schnell. Alkohol floss in Strömen. Ecstasy-Tabletten wurden wie Appetithäppchen gereicht. Die ältesten Gäste waren wohl Anfang fünfzig, die meisten Anfang dreißig bis Ende vierzig, und als Linda hereinkam und anfing, sich auszuziehen, blickte mehr als ein Mann wohlgefällig in ihre Richtung und nahm sich augenblicklich vor, sie anzumachen.
Michael und Linda waren beide mit jemand anderem gekommen, verließen die Party jedoch zusammen. Michaels »Date« für den Abend war eine andere Studentin gewesen, eine Doktorandin in Soziologie, die sich praktische Erkenntnisse aus einer Art Feldstudie versprach, die Party jedoch fluchtartig verlassen hatte, nachdem drei nackte und sichtlich erregte Männer sie in die Enge getrieben und sich nicht im Mindesten um die Fragen geschert hatten, die sie ihnen nach ihren Beweggründen stellte, geschweige denn um ihren schwachen Protest, als sie sich über sie beugten. Es war darum gebeten worden, bei dieser Party niemanden zu irgendetwas zu zwingen, was derjenige nicht wollte, ein Prinzip, das die unterschiedlichsten Interpretationen zuließ.
Lindas »Partner« für diesen Abend war ein Mann gewesen, der sie als Begleiterin angeheuert und ihr nach einem teuren Abendessen eröffnet hatte, wo er den restlichen Abend verbringen wollte. Er hatte sich erboten, ihr mehr als die üblichen 1500 Dollar zu zahlen. Sie hatte sich einverstanden erklärt, vorausgesetzt, das Geld wurde bar und im Voraus bezahlt; dass sie ihn wahrscheinlich auch kostenlos begleitet hätte, verschwieg sie. Neugier, dachte sie, war wie Vorspiel. Kaum waren sie auf der Party eingetroffen, verschwand der »Partner« – spärlich bekleidet mit einer engen schwarzen Strumpfmaske aus Seide und gerüstet mit einem schwarzen Schlagpaddel aus Echtleder – in einem Nebenraum. Die sitzengebliebene Linda konnte sich allerdings nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beklagen.
Ihre Begegnung war – wie alle Begegnungen an diesem Abend – reiner Zufall gewesen. Es war der
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