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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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hatten schon heftige Diskussionen darüber geführt, was den Sog von Nummer 4 und der Geschichte, die sich um sie entspann, nur noch verstärkte.
    Jeder wollte seinen persönlichen Zugang zu dem Drama rechtfertigen. Die Frau hatte bereits frohlockt, als Nummer 4 das erste Mal unter ihrer Augenbinde hervorsah. Der Filmemacher war aufgesprungen und hatte vor Erregung mit der Siegesfaust in die Luft geschlagen, als Nummer 4 sich trotz der Drohungen des Mannes nicht rührte.
    Der Filmemacher sagte bei solchen Gelegenheiten: »Das ist wirklich ihre einzige Möglichkeit, auch nur die geringste Kontrolle zu bewahren. Sie muss sich quasi ausradieren.«
    Die Performance-Künstlerin erwiderte dann: »Sie muss ihre eigene Geschichte ausagieren. Sie muss versuchen, und sei es auch nur in den kleinsten Nebensächlichkeiten, die Kontrolle zurückzugewinnen. Nur so kann sie im Gedächtnis behalten, wer sie ist, und sicherstellen, dass der Mann und die Frau sie als Menschen und nicht als Sache sehen.«
    »Das kannst du vergessen«, erwiderte der Ehemann. Dies klang – wie all die anderen Wortwechsel darüber – nach dem Keim eines Streits, endete aber jedes Mal damit, dass er seiner Frau das Bein streichelte und sie sich enger an ihn schmiegte. Faszination als Vorspiel.
    Eben saßen sie nach einem guten Abendessen zu einer teuren Flasche Weißwein halb ausgezogen auf dem Sofa und ließen sich in den kurzen Momenten vor dem Schlafengehen vom Echtzeitdrama gefangen nehmen. »Das ist ihre Chance, verdammt noch mal!«, rief die Frau ein wenig zu laut. »Ergreif die Gelegenheit, Nummer 4! Worauf wartest du!«
    »Hör mal, du liegst daneben, vollkommen daneben«, antwortete ihr Mann und erhob selber die Stimme, während er auf den Bildschirm starrte. »Wenn sie Zweifel bekommen, dass sie ihnen gehört, kann es der Anfang vom Ende für sie sein. Sie könnten in Panik geraten, sie könnten …«
    Er verstummte. Seine Frau zeigte auf die Ecke des Bildschirms. Nummer 4 hatte beide Hände an das Halsband gelegt und damit die Aufmerksamkeit des Paars erregt. Augenblicklich wechselte der Aufnahmewinkel zur Obersicht, aus nächster Nähe schräg von hinten; diese Position wurde gehalten. Der Filmemacher registrierte die Veränderung, wusste instinktiv, was sie zu bedeuten hatte, und lehnte sich gebannt nach vorn. Doch die Performance-Künstlerin zeigte auf etwas anderes.
    Jennifer klemmte sich Mister Braunbär unter den Arm und griff zum Halsband mit der Kette. Sie sah drei Möglichkeiten: Mach ordentlich Lärm. Versuch wegzulaufen. Tu gar nichts und hoffe inständig auf das Eintreffen der Polizei.
    Das Erste war genau das, was sie ihr verboten hatten. Sie hatte keine Ahnung, ob die Polizisten oben sie hören konnten. Nach allem, was sie wusste, konnte sie nur vermuten, dass ihre Zelle – genau für den Fall, der gerade eingetreten war – schalldicht isoliert worden war. Andererseits konnte sie all diese Geräusche hören. Sie dachte daran, dass der Mann und die Frau so vieles sorgfältig geplant hatten; folglich musste sie etwas Unerwartetes tun. Dieser Gedanke machte ihr Angst.
    Sie verstand, dass sie sich an einem Abgrund bewegte. Sie wägte alle Optionen genau ab – wurde jedoch zugleich von einer verzweifelten Energie erfasst.
    Jennifer zerrte an dem Hundehalsband. Ihre Fingernägel rissen und kratzten daran. Sie biss die Zähne zusammen. Seltsamerweise entfernte sie nicht die Augenbinde, als kostete es sie zu viel Mut, zwei Verbote auf einmal zu übertreten.
    Ihr brachen die Nägel ab, sie rieb sich die Haut am Hals wund. Sie atmete wie ein Taucher, der unter Wasser eingeklemmt war und sich verzweifelt nach Luft sehnte. Das letzte bisschen Kraft, das sie noch hatte, nahm sie für die Attacke auf das Lederband zusammen. Mister Braunbär rutschte ihr aus dem Arm und fiel zu ihren Füßen auf den Boden. Sie schluchzte vor Schmerzen. Sie wollte schreien, doch als sie schon den Mund geöffnet hatte, gab das Leder nach. Sie keuchte und zerrte wie wild daran.
    Und plötzlich glitt es herunter.
    Jennifer schluchzte auf und wäre beinahe aufs Bett zurückgefallen. Sie hörte, wie die Kette rasselnd auf den Boden traf. Danach herrschte Stille, doch innerlich kam es Jennifer so vor, als herrschte ein betäubender Lärm, wie eine laute, dissonante Ouvertüre oder das Kratzen auf einer Schiefertafel oder ein Düsenflugzeug, das nur wenige Meter über ihren Kopf hinwegbraust. Sie hielt sich die Ohren zu.
    Sie versuchte, sich zu fassen, nachdem

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