Der Professor
Auge zu sehen, nicht fruchten. Andererseits war ihr bewusst, dass sie zu den Problemen, die sich in diesem Haus abspielten, noch erheblich beitrug. Sie nahm die Tasse Kaffee entgegen, die Mary Riggins ihr hinhielt, setzte sich ihr gegenüber und sah sie an. Sie wird schnell altern, dachte Terri.
Jedes Wort, das ich zu sagen habe, lässt ihr Herz um Jahre altern. Sie wird vierzig sein, wenn ich anfange, und hundert, wenn ich fertig bin.
»Ich wünschte, ich hätte gute Neuigkeiten«, sagte sie leise.
35
D as Sirenengeheul erreichte ein dramatisches Crescendo, so dass Jennifer das Gefühl bekam, es ertönte unmittelbar außerhalb ihrer Zelle. Dann hörte es mit einem Schlag auf. Mit dumpfem Knall wurden offenbar mehrere Wagentüren zugeschlagen. Es folgte heftiges Donnern an eine ferne Tür. Zwar konnte sie nicht direkt hören, wie jemand rief: »Aufmachen! Polizei!«, doch die Lücke füllte sie mit ihrer Vorstellungskraft aus, besonders, als sie auf einem Fußboden über ihr den Trommeltakt von lauten Schritten hörte.
Sie war wie erstarrt – allerdings weniger, um zu gehorchen, sondern vielmehr, weil sie von Gedanken und Bildern, die sie in der Dunkelheit bedrängten, überwältigt wurde. Das Wort
Rettung
nistete sich in ihrem Kopf ein.
Jennifer schnappte unwillkürlich nach Luft und konnte das Schluchzen, das folgte, nicht unterdrücken. Ein reißender Sturzbach widersprüchlicher Gefühle wirbelte durch ihre Gedanken.
Sie wusste, dass die Kamera auf sie gerichtet war, und wenn die Linse jede noch so kleine Bewegung von ihr aufnahm, war klar,
dass sie auch irgendwo auf einem Monitor ankam. Doch zum ersten Mal bestand die Chance, dass sie noch jemand
anders
sehen könnte. Jemand anders als die Frau und der Mann. Nicht jemand Anonymes und Körperloses, sondern jemand, der vielleicht auf ihrer Seite stand.
Nein,
dachte sie,
jemand, der mit absoluter Sicherheit auf meiner Seite steht.
Jennifer drehte den Kopf ein wenig zur Zellentür. Sie reckte sich vor und horchte. Sie versuchte, Stimmen herauszuhören, doch ihr schlug nichts als Stille entgegen. Sie sagte sich, dass das ein gutes Zeichen war. Sie malte sich aus, was gerade vor sich ging.
Sie müssen die Haustür öffnen. Wenn die Polizei anklopft, kann man sie nicht einfach stehen lassen. Es wird einen Wortwechsel geben … »Sind Sie …?«, und: »Wir haben Grund zu der Annahme, dass Sie hier eine junge Frau in Ihrer Gewalt haben. Jennifer Riggins. Kennen Sie die junge Frau?« Der Mann und die Frau werden nein sagen – aber damit sind sie die Cops noch lange nicht los, denn die werden ihnen nicht glauben. Die Cops werden hartnäckig sein. Sie lassen sich nicht verarschen. Sie kaufen ihnen die Lügen nicht ab. Sie erzwingen Einlass, und jetzt stehen sie alle oben in irgendeinem Raum. Die Polizisten sind misstrauisch und stellen Fragen. Höflich, aber bestimmt. Sie wissen, dass ich hier bin oder zumindest in der Nähe, aber sie wissen noch nicht, wo genau. Es ist nur eine Frage der Zeit, Mister Braunbär. Sie sind jeden Moment da. Der Mann versucht, sich rauszureden. Die Frau versucht, die Polizei davon zu überzeugen, dass alles in bester Ordnung sei, aber die Polizei weiß es besser. Der Mann und die Frau bekommen es mit der Angst zu tun. Sie wissen, die Sache ist für sie gelaufen. Die Cops ziehen ihre Waffen. Der Mann und die Frau versuchen wegzurennen, aber sie sind umstellt. Sie können nirgends hin. Jeden Moment werden die Cops nach ihren Handschellen greifen. Ich hab das hundertmal im Film gesehen. Die Cops werden den Mann und die Frau auf den Boden drücken und die Handschellen zuschnappen lassen. Vielleicht fängt die Frau dann zu weinen an und der Mann zu fluchen »Ihr könnt mich mal«, aber das kümmert die Cops nicht. Kein bisschen. Das haben sie alles schon tausendmal gehört. Einer von ihnen wird sagen: »Sie haben das Recht zu schweigen …«, während die anderen ausschwärmen, um nach uns zu suchen, Mister Braunbär. Pass gut auf, wir werden sie jeden Moment hören. Die Tür fliegt auf, und jemand sagt: »Mein Gott«, oder so was Ähnliches, und dann werden sie uns helfen. Sie zerreißen dieses Halsband mit der Kette um meinen Hals. »Alles in Ordnung? Bist du verletzt?« Sie werden mir die Augenbinde runterreißen. Jemand wird rufen: »Wir brauchen einen Krankenwagen!« Jemand anders wird zu uns sagen: »Keine Angst, also … kannst du laufen? Sag uns, was sie dir angetan haben.« Und ich werd’s ihnen sagen, Mister Braunbär.
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