Der Professor
Ich werd ihnen alles sagen. Du auch. Und im nächsten Moment helfen sie mir in meine Sachen, und es wimmelt hier nur so von Sanitätern und Cops. Ich bin mittendrin. Jemand reicht mir ein Handy, und es ist meine Mom am anderen Ende.
Sie ist so glücklich, dass sie weint, und vielleicht verzeih ich ihr diesmal ein bisschen, weil ich wirklich nach Hause will, Mister Braunbär. Ich will einfach nur nach Hause. Vielleicht können wir wegen alldem hier noch mal ganz von vorn anfangen. Kein Scott. Vielleicht eine andere Schule mit neuen Leuten, die nicht so gemein sind, und von jetzt an ist alles anders. Es wird so sein wie damals, als Dad noch lebte, nur dass er nicht da ist, aber ich kann ihn dann wieder fühlen. Ich weiß, dass er ihnen geholfen hat, mich zu finden, auch wenn er tot ist. Es ist, als ob er ihnen gesagt hätte, wo sie nach mir suchen müssen, und sie sind gekommen, und da sind wir. Und dann, Mister Braunbär, holen uns die Cops hier raus. Es wird Nacht sein, und überall sind Kameras und Blitzlichter und Reporter, die irgendwelche Fragen brüllen, aber ich werde nichts sagen, weil ich nach Hause gehe. Du und ich zusammen. Sie setzen uns auf den Rücksitz eines Streifenwagens, die Sirene geht an, und ein Staatspolizist sagt: »Da hast du ja noch mal ganz schön Glück gehabt, Jennifer. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Also, bist du bereit, heimzufahren?« Und ich sage: »Ja. Bitte.« Und in einer Woche oder so ruft jemand von
60 Minutes
oder
CNN
an, und sie werden sagen »Wir zahlen dir eine Million Dollar, nur um deine Geschichte zu hören, Jennifer«, und dann, Mister Braunbär, können wir ihnen sagen, wie es gewesen ist. Wir sind reich und berühmt, und von da an wird alles anders.
Jeden Moment.
Sie horchte angestrengt und wartete darauf, dass etwas aus ihrer Phantasievorstellung ein Geräusch verursachte und ihr bestätigte, was gerade ganz in ihrer Nähe passierte.
Doch es war still. Das Einzige, was sie hören konnte, war ihr eigener Atem, schnell und krächzend. Sie hatten ihr befohlen, ruhig zu sein. Sie wusste, dass sie fast zu allem fähig waren. Es gab Regeln, die sie nicht übertreten durfte. Gehorsam war alles. Andererseits war das hier ihre Chance. Sie war sich nur nicht sicher, was sie machen sollte.
Jede lautlose Sekunde war wie ein Nadelstich. Sie merkte, wie sie heftig zu zittern begann, wie die vertrauten Muskelkrämpfe sie von oben bis unten erfassten. Es war fast unmöglich stillzuhalten. Es kam ihr so vor, als forderte jeder Nerv, jedes Organ in ihrem Körper, jeder Pulsschlag etwas anderes von ihr. Sie hatte das Gefühl, als würde sie hilflos durchgeschüttelt, wie im ersten Moment auf einer Achterbahn, wenn die Schienen hinunterführen und der Wagen plötzlich kopfüber in atemberaubendem Tempo und unter all dem Geschrei in die Tiefe stürzt.
Jennifer wartete. Es war die Hölle. Sie rechnete damit, jeden Moment in Sicherheit zu sein. Sie reckte den Kopf und versuchte,
etwas
zu hören, irgendetwas, das ihr klarmachte, was los war. Doch die Stille lähmte sie. Und dann drängte sich ihr der Gedanke auf:
Das dauert zu lange, Mister Braunbär, das dauert zu lange!
In ihrer Panik überstürzten sich die Ideen, was sie tun
könnte
. Sie konnte rufen:
Ich bin hier!
Oder sie konnte anfangen, mit der Kette zu rasseln. Sie konnte das Bett umwerfen oder gegen die Toilette treten. Irgendetwas, damit diejenigen, die da oben waren, horchten und merkten, dass sie in der Nähe war.
Tu was! Irgendetwas! Damit sie nicht wieder gehen!
Sie hielt es nicht länger aus und schwang die Beine über die Bettkante, doch sie fühlten sich so schwach wie Gummi an, ohne jede Kraft. Sie zwang sich aufzustehen. Sie war
so
nah dran! Sie wusste, dass sie um Hilfe rufen, einen gewaltigen Lärm veranstalten, schreien, kreischen musste – egal, was, wenn nur jemand kam.
Jennifer öffnete den Mund und nahm allen Mut zusammen.
Und verstummte, bevor sie einen Laut herausgebracht hatte.
Sie werden mir wehtun.
Nein, die Polizei wird dich hören. Die werden dich retten.
Falls die Cops nicht kommen – bringen sie mich um.
Es schnürte ihr die Luft in der Brust ein. Es fühlte sich an, als würde sie erdrückt.
Sie bringen mich sowieso um.
Nein.
Ich bin wertvoll. Ich bin wichtig. Ich bedeute ihnen etwas. Ich bin Nummer 4. Sie brauchen Nummer
4
.
Von all den Möglichkeiten hin und her gerissen, war sie wie versteinert. Alles machte ihr Angst.
Jennifer wusste, dass sie sich in Sicherheit
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