Der Professor
ihr von der plötzlichen Freiheit schwindelig geworden war. Es kam ihr so vor, als hätte die Kette sie wie die Fäden einer Marionette aufrecht gehalten, und jetzt fühlten sich ihre Beine wie Gummi an, flatterten ihre Muskeln wie eine zerrissene Fahne in einer kräftigen Böe. Hunderte Gedanken rasten ihr durch den Kopf, doch die schreiende Angst verdüsterte sie alle. Zitternd hob sie die Hände und riss sich die Augenbinde weg.
Sobald sie das schwarze Tuch heruntergezerrt hatte, war es, als starrte sie in die Sonne. Sie hielt sich die Hand über die blinzelnden, tränenden Augen und dachte im ersten Moment, sie sei blind, doch es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sich ihre Sehkraft erholte und die Scharfeinstellung wie bei einer Filmkamera funktionierte.
Im selben Moment zuckte sie zusammen, denn sie blickte genau in die Hauptkamera, kaum einen Meter von ihr entfernt. Sie hätte sie am liebsten zertrümmert, tat es aber nicht. Vielmehr bückte sie sich nur ruhig und hob ihren Stoffbären auf. Dann drehte sie sich langsam zu dem Tisch um, auf dem sie ihre Kleider gesehen hatte, als sie das erste Mal vor Tagen unter der Augenbinde hervorgespäht hatte.
Sie waren verschwunden.
Wie unter einer Ohrfeige taumelte sie ein wenig zurück. Eine Woge aus Angst und Übelkeit erfasste sie, und sie schluckte schwer. Sie hatte fest mit ihren Kleidern gerechnet, als ob ihre Jeans und das zerrissene Sweatshirt ihr ein Stück von ihrem vertrauten Leben wiedergeben könnten, während der Albtraum, in den sie gestürzt worden war, so lange weiterzugehen schien, wie sie nackt in ihrer Zelle stand. Sie versuchte, diese Kluft mit dem Verstand zu überwinden, doch vergeblich. Stattdessen drehte sie den Kopf nach links und rechts und hoffte, sie doch noch irgendwo zu finden. Aber der Raum war leer – außer dem Bett, der Kamera, der heruntergefallenen Kette und der mobilen Toilette.
Eine innere Stimme versuchte, sie zu beruhigen –
halb so wild, halb so wild
,
auch so, wie du bist, kannst du wegrennen
–, doch falls sich dieser Gedanke in ihrem Kopf einnistete, dann nur in einem hintersten Winkel. Sie trat einen Schritt vor. Jennifer wiederholte immer wieder den Befehl
Verschwinde, verschwinde, verschwinde,
ohne zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Sie hatte lediglich die verschwommene Idee, irgendwie auszubrechen und nach den Polizisten oben zu rufen. Ihre Phantasievorstellungen passten sich auf Schritt und Tritt neuen Erkenntnissen an: Jetzt würde Jennifer die Polizisten finden müssen, statt umgekehrt.
Sie holte tief Luft, durchquerte an der Kamera vorbei mit nackten Füßen ihre Zelle und griff nach dem Türknauf.
Sei bloß nicht abgeschlossen, sei nicht abgeschlossen …
Sie legte die Finger um den Knauf. Er drehte sich. Sie dachte:
Oh mein Gott, Mister Braunbär, wir sind frei.
Behutsam und so leise wie möglich öffnete sie die Tür. Sie spannte alle Nerven an und sagte sich:
Achtung, wir werden rennen, so schnell wir können. Schneller als je zuvor.
Sie hatte gerade eben Zeit für einen einzigen Atemzug, einen einzigen Blick auf ihre Umgebung. Sie sah einen dunklen, modrigen Kellerraum und durch ein hölzernes, von Spinnweben überzogenes, verstaubtes Fenster den nächtlichen Himmel.
Ein Licht, so hell, wie sie es noch nie im Leben gesehen hatte, explodierte direkt vor ihrem Gesicht und blendete sie. Sie atmete heftig ein und hielt sich schützend den Bären vor die Augen. Es war, als entzündete sich eine grelle, weiße Flamme. Dann wurde ihr wie zu Beginn ihrer Gefangenschaft eine Haube über den Kopf gestülpt, und es war plötzlich wieder pechschwarz.
Sie hörte die harte Stimme der Frau: »Keine klugen Entscheidungen, Nummer 4.«
Eine Sekunde lang wehrte sie sich heftig, doch dann wurde sie niedergeworfen und mit einem Griff festgehalten, der sie schmerzhaft in einen Schraubstock zwängte. All die Schrecken der vergangenen Tage konzentrierten sich in dieser einen Sekunde und stürzten sie in ein großes schwarzes Loch.
Sie taumelte hilflos in die Tiefe.
Die Performance-Künstlerin schüttelte den Kopf. »Verdammt«, sagte sie traurig, doch immer noch fasziniert. »Verdammt.« Der Filmemacher-Ehemann seufzte. »Hab ich dir doch gleich gesagt«, flüsterte er, während sie zusahen, wie Nummer 4 sich vergebens wehrte. »Das dürfte einfach nicht sein«, sagte seine Frau, ohne jedoch die Übertragung abzuschalten. Stattdessen ergriff sie seine Hand und schauderte, während sie sich miteinander
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