Der Professor
bringen musste. Doch hinter der Augenbinde sah sie zwei Wege, beide dicht an einer Klippe entlang. Sie konnte nicht sagen, welcher der richtige war, welcher in die Sicherheit führte, aber eines war ihr klar: Wenn sie sich für einen Pfad entschieden hatte, gab es kein Zurück, denn der Weg würde sich hinter ihr in nichts auflösen. Ihr liefen heiße Tränen die Wangen hinunter. Sie wollte um jeden Preis etwas hören, das ihr sagte, welche Richtung sie einschlagen sollte, doch die Stille bereitete ihr genau solche Qualen wie alles, was der Mann und die Frau ihr angetan hatten. Jennifer dachte:
Ich werde sterben. So oder so werde ich sterben.
Nichts ergab einen Sinn, nichts war klar.
Es war unmöglich, auch nur ansatzweise vorherzusagen, was richtig und was falsch war. Sie krallte die Finger um Mister Braunbär.
Und dann – als ob jemand anders ihre Hand nähme und bewegte – schob sie den Rand ihrer Binde hoch.
»Tu’s nicht!«, rief der Filmemacher.
»Doch! Doch! Mach schon!«, brüllte seine Frau, die Performance-Künstlerin.
Sie saßen wie gebannt vor dem Flachbildschirm an der unverputzten Ziegelwand ihres Lofts in Soho. Der Filmemacher war ein dünner, drahtiger Mann Ende dreißig, der Dokumentarfilme über die Armut in der Dritten Welt für eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen drehte und davon gut leben konnte. Er und seine Frau waren kürzlich von einem gemeinsamen schwulen Freund verheiratet worden, der das Priesteramt frustriert aufgegeben hatte und wahrscheinlich überhaupt nicht befugt war, eine Eheschließung vorzunehmen. Seine Frau war genauso dünn, mit einer medusenhäuptigen Mähne wirrer schwarzer Locken. Sie trat häufig in Nachtclubs und auf Kleinbühnen auf, nicht die Liga, die im
New Yorker
verzeichnet war, was ihr eine trendige Glaubwürdigkeit verlieh, auch wenn sie es insgeheim vorgezogen hätte, in den Mainstream aufzusteigen, der mehr Geld und mehr Ruhm versprach.
»Sie muss sich ihren Weg in die Freiheit erkämpfen!«, sagte die Frau aufgeregt.
Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Sie muss ihnen intellektuell Paroli bieten, so wie man sich einem Mann mit einer Pistole stellt –«, fing er an, wurde jedoch unterbrochen.
»Sie ist doch noch ein Kind. Paroli bieten? Kannst du vergessen.«
Dies war das zweite Mal, dass die beiden Whatcomesnext.com abonnierten. Nach ihrer Überzeugung war das Geld für die Nutzung berufsbezogen und somit steuerlich abzugsfähig. Avantgarde-Filme, Schauspielkunst der neuen Welle. Oft führten sie, nachdem sie Nummer 4 verfolgt hatten, tiefgründige Diskussionen über das, was sie gesehen hatten, und seine Bedeutung für die zeitgenössische Kunst. In ihrer beider Augen war Whatcomesnext.com eine konsequente Fortführung von Warhols Welt und der Factory, die noch vor Jahrzehnten verlacht wurden, inzwischen aber bei Kritikern und Denkern, denen sie nahestanden, zunehmend an Bedeutung gewannen.
Nummer 4 reizte sie beide, doch sie verlagerten ihr Interesse auf die intellektuelle Ebene, da sie sich den kriminellen oder voyeuristischen Aspekt ihrer Teilnahme nicht eingestehen wollten. So verheimlichten sie ihre Subskription vor ihren Freunden, auch wenn sie beide bei so mancher Dinnerparty, bei der sich die Diskussion den neuen Filmtechniken und der wachsenden Bedeutung des Internets als der Schnittstelle von Film und Kunst zuwandte, am liebsten damit herausgeplatzt wären, wie sehr sie Serie Nummer 4 fesselte und was sie ihnen bedeutete. Doch sie hielten sich zurück, auch wenn sie davon überzeugt waren, dass viele andere Gäste dieser Partys sie ebenfalls verfolgten. Immerhin hatten sie auf diesem Wege überhaupt von dem Angebot erfahren.
Doch während sie Nummer 4 Tage und Nächte hindurch in ihrer Gefangenschaft begleiteten, war jeder von ihnen eine andere Beziehung mit ihr eingegangen. Der Filmemacher neigte in seinen Reaktionen eher zur Beschützerrolle, machte sich über das, was mit ihr passieren würde, Sorgen, so dass er hoffte, dass sie vorsichtig agierte und nichts unternahm, was sie in Gefahr und das Boot vielleicht unnötig zum Kentern brachte. Seine Frau dagegen wollte, dass Nummer 4 ihre Grenzen ausreizte. Sie wollte, dass Nummer 4 jede Chance ergriff. Sie wollte, dass sie sich gegen den Mann und die Frau erhob und wehrte. Sie drang auf Rebellion, während er von Umsicht und Gehorsam sprach.
Jeder von ihnen glaubte, das, was sie Tag und Nacht dem Bildschirm entgegenschrien, sei für Nummer 4 die einzige Überlebenschance. Sie
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