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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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verfolgten das langsame, doch fesselnde Ende von Nummer 4. Es war unvermeidlich. Es war ein qualvoller Nervenkitzel. Die Chatrooms und SMS zum letzten Akt füllten sich rasant mit Kommentaren zum Geschehen. Es herrschte ein hektisches elektronisches Getöse. Es wimmelte von Ausrufezeichen und Kursivschrift. Die Worte strömten herein wie Wasser nach einem Dammbruch.
    »Du liebe Zeit!«, sagte Linda. »Wenn sie die abnimmt …« In einer Welt, die so sehr im Zeichen der Phantasie stand, hatte Nummer 4, ohne es zu ahnen, ein reales Element eingeführt, mit dem sie zurechtkommen mussten. Linda hatte mit der Möglichkeit nicht gerechnet, und sie sah sich auf einmal mit gewaltigen Ängsten und Bedenken konfrontiert. »Ich hätte ihr nicht die Handschellen abnehmen dürfen«, sagte Linda wütend. »Ich hätte ihr klarere Anweisungen geben müssen.«
    Michael rollte zur Tastatur hinüber und packte einen Joystick. Er war kurz davor, die Hauptkamera abzuschalten, doch dann hielt er inne. »Wir können die Kundschaft nicht austricksen«, sagte er. »Sie werden verlangen, ihr Gesicht zu sehen.« Er hatte schon den Aufruhr vor Augen, den es geben würde, wenn Nummer 4 ihr Gesicht zeigte und sie beide den letzten Akt mit geschickten Aufnahmetricks und Verkantungen der Kameraeinstellung zu verschleiern suchten. »Nicht gut«, murmelte Michael. »Sie werden es messerscharf haben wollen.«
    »Sollen wir …«, fing Linda an, sprach jedoch nicht zu Ende. »Sie haben sie vielleicht schon einen winzigen Moment zu sehen bekommen, als sie dachte, sie könnte fliehen. Bevor die Übertragung zu der Sicht von hinten wechselte, gab es vielleicht ein, zwei Sekunden …«
    »Ja. Und die Rückmeldungen waren ziemlich eindeutig. Sie hassen es, dass ihre Augen verdeckt bleiben.
Sie wollten sie sehen
«, erwiderte Michael.
    »Aber …« Linda unterbrach sich wieder. Sie wusste, was Michaels Hinweis zu bedeuten hatte. »Das ist ein verdammt großes Risiko«, flüsterte sie. »Falls die Cops das je zu sehen kriegen, und, Michael, du weißt, das ist früher oder später der Fall, können sie das Bild anhalten. Und technisch verbessern. Dann wissen sie, wen sie vor sich haben. Und es könnte, ich sage nur,
könnte,
sie auf die Idee bringen, nach wem sie zu suchen haben.«
    Michael war sich nur allzu sehr über das Risiko im Klaren, das sie auf sich nahmen, wenn sie die Klienten sehen ließen, wer die sterbende Nummer 4 war. Sämtliche früheren Nummern waren mehr oder weniger anonym gestorben und hatten so ihre Identität bis zum Ende der Show nie preisgegeben. Doch Michael und Linda waren sich vollkommen bewusst, was für innige Gefühle und Leidenschaften die Kundschaft Nummer 4 entgegenbrachte. Sie war ihnen unendlich mehr ans Herz gewachsen als 1 bis 3. Es stand also viel auf dem Spiel, als Nummer 4 an den Bändern zerrte, mit denen die Haube ihr am Kopf befestigt war.
    »Es ist ihr nicht bewusst«, sagte Linda langsam, »aber sie könnte sie wahrscheinlich zerreißen. Das wäre schneller. Wohl auch besser, ich meine, visuell wirkungsvoller.«
    »Warte, vielleicht kriegt sie’s raus. Halt dich bereit. Kann sein, dass wir die Hauptkameraübertragung ganz schnell abblocken müssen. Ich würde es nur ungern tun, aber vielleicht geht es nicht anders.«
    Michaels Finger schwebten über den entsprechenden Tasten. Linda war an seiner Seite. Er überlegte, ob sie die letzte Szene im Bauernhaus vielleicht einfach nur aufzeichnen sollten, um sie erst später, nachdem sie Nummer 4 bereits entsorgt und ihre Spuren verwischt hatten, zu zeigen. Doch er wusste, dass so etwas die Subscriber in helle Wut versetzen würde. In ihrem sicheren Hort daheim vor dem Computerbildschirm wollten sie unbedingt wissen, was passierte, was gleichbedeutend damit war, es unmittelbar zu sehen. Michael merkte, wie er vor Nervosität die Muskeln anspannte.
Kein Aufschub,
beschloss er.
Wir müssen uns eben auf die Dinge einstellen, so wie sie passieren.
Die Ungewissheit elektrisierte ihn und machte ihm zugleich Angst. Er warf einen Blick auf Linda und schätzte, dass ihr mehr oder weniger dieselben Gedanken im Kopf herumspukten. Dann wandte er sich wieder Nummer 4 zu, und zusammen konzentrierten sie sich auf das, was sie sehen konnten und was sie in den Cyberspace hinausschickten.
    Er holte tief Luft.
    Zum allerersten Mal seit Beginn der Serie Nummer 4 waren Michael und Linda unschlüssig. Fast schien es, als holte die Ungewissheit, in der Nummer 4 während der gesamten Show

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