Der Professor
Operationssaal
.
Sie machte noch ein paar Schritte. Ich bin hübsch hässlich, dachte sie und drehte sich zu der Gestalt auf dem Bett um. Jennifer, rief sie sich ins Gedächtnis.
Jetzt nicht mehr. Jetzt ist sie Nummer
4
. Alter: 16. Ein beliebiges Mädchen aus einem abgeschiedenen Universitätsstädtchen, im Rahmen ihres Plans auf einer typischen Vorstadtstraße aufgelesen. Sie kannte die Adresse von Nummer 4, ihre Festnetznummer, ihre Freunde und noch einiges andere, was ihr eine sorgfältige Überprüfung des Rucksacks, des Handys und der Brieftasche verraten hatte.
Linda trat in die Mitte des Raums, immer noch drei bis vier Meter von dem alten Eisenbett entfernt. Wie der Regisseur einer Fernseh-Sitcom hatte Michael ein paar blasse Kreidelinien auf den Boden gemalt, um ihr zu zeigen, welche Kamera sie an welcher Stelle aufnahm. An wichtigen Punkten, an denen sie stehen sollte, hatte er mit Klebeband jeweils ein X angebracht. Profil. Frontalansicht. Von oben. In der Vergangenheit hatten sie gelernt, dass es wichtig war, immer daran zu denken, welche Kameraeinstellung jeweils zur Verfügung stand und was dabei zu sehen war. Die Zuschauer erwarteten mehrere Perspektiven und professionelle Kameraarbeit. Als zahlende Voyeure verlangten sie nur das Beste – ständig hautnah dabei zu sein.
Es befanden sich fünf Kameras im Raum, auch wenn nur eine sofort ins Auge sprang, die fest installierte Sony HD auf einem Stativ, die aufs Bett gerichtet war. Bei den anderen handelte es sich um Mini-Kameras, die in der Decke und in zwei Ecken der künstlichen Wände eingelassen waren. Nur eine würde die Tür aufnehmen und war dramatischen Momenten vorbehalten, wenn entweder Michael oder sie selbst den Raum betrat. Es würde die Zuschauer erregen, weil sie wussten, dass etwas Dramatisches bevorstand. Linda wusste, dass sie in diesem Moment nicht lief. Dieser erste Besuch diente eher der Vorbereitung, eine Art Probelauf.
In ihrer Tasche befand sich eine kleine elektrische Fernbedienung. Sie legte den Finger auf den Knopf, der das elektronisch gesendete Bild einfrieren würde. Sie wartete bis zu dem Moment, in dem sich das Mädchen mit der Kapuze ein wenig in Lindas Richtung drehte, erst dann drückte sie auf den Knopf.
Sie werden wissen, dass sie etwas gehört hat, aber nicht, was.
Michael und sie hatten längst begriffen, wie man mit solchen Tricks die Verkaufsziffern in die Höhe trieb.
Sie ging langsam auf das Bett zu und beobachtete, wie Nummer 4 versuchte, ihren Bewegungen zu folgen.
Bis jetzt hatte sie noch nichts gesagt. Manche trieb die Angst dazu, wie ein Wasserfall draufloszuplappern, zu betteln und zu flehen und in eine kindliche Rolle zurückzufallen, während andere es schafften, düsteres, resigniertes Schweigen zu bewahren.
Sie wusste nicht, wie Nummer 4 sein würde. Sie war die Jüngste, die sie je zum Einsatz gebracht hatten, was es auch für Michael und sie zu einem Abenteuer machte.
Linda ging am Fuß des Bettes in Stellung. Sie sprach in unbeteiligtem, ausdruckslosem Ton, der ihre eigene Erregung verbarg. Sie hob weder die Stimme, noch betonte sie einzelne Wörter, sondern blieb vollkommen kalt. Sie war ebenso darin geübt, Drohungen auszusprechen, wie, sie in die Tat umzusetzen. »Sag nichts. Beweg dich nicht. Schrei nicht und wehr dich nicht. Hör einfach nur gut zu, und dir passiert nichts. Wenn du das hier überleben willst, dann tust du immer genau das, was man dir sagt, egal, wozu du aufgefordert wirst und wie es sich für dich anfühlt, es zu tun.«
Das Mädchen auf dem Bett erstarrte und zitterte, sagte jedoch nichts.
»Das sind die wichtigsten Regeln. Später kommen andere dazu.« Sie legte eine Pause ein, weil sie halb damit rechnete, dass das Mädchen sie jetzt anbetteln würde, doch Jennifer blieb stumm. »Von jetzt an heißt du Nummer 4.« Linda glaubte, unter der schwarzen Haube ein gedämpftes Stöhnen zu hören. Das war hinnehmbar, vorhersehbar. »Wenn dir eine Frage gestellt wird, musst du antworten. Verstehst du?«
Jennifer nickte.
»Antworte!«
»Ja«, sagte das Mädchen hastig und keuchte unter der Kapuze.
Linda schwieg einen Moment und versuchte, sich die Panik unter der Camouflage auszumalen.
Ein bisschen was anderes als Highschool, was, kleines Mädchen?
Doch das sagte sie nicht laut. Stattdessen spulte sie einfach ihren Monolog weiter ab. »Ich will dir etwas erklären, Nummer 4. Alles, was du über dein bisheriges Leben weißt, ist hiermit zu Ende. Wer du warst, was du
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