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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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einen Sommer lang mit dem nächtlichen kratzenden Geräusch kleiner Klauen abgefunden, die durch die Dachrinnen flitzten, hatte drohenden Krankheitserregern getrotzt und der natürlichen Abneigung gegen Mitbewohner widerstanden, welche die irritierende Angewohnheit hatten, die Familie aus irgendwelchen dunklen Winkeln heraus anzuglotzen. Die Opossum-Familie hatte ihrerseits wohl instinktiv schnell spitzbekommen, dass sie dank ihrer neunjährigen Schutzpatronin einen Sonderstatus genoss, und nicht lange gebraucht, um das reichhaltige kulinarische Angebot der Küche zu sondieren. Typisch Cassandra, dachte Adrian. Eine streitbare Fürsprecherin.
    »Adrian, du weißt, was du gesehen hast.«
Sie wiederholte sich, mit noch größerem Nachdruck. Ihre Stimme hatte diesen vertrauten beharrlichen Unterton. Wenn Cassie in all den Jahren ihrer Ehe wirklich etwas wollte, hatte es bei ihr immer geklungen wie ein Protestsong von 1960.
    Er drehte sich zum Bett um. Cassie lag lässig da und sah ihm mit dem verlockenden Blick eines Künstlermodells entgegen. Sie war die schönste Halluzination, die er sich vorstellen konnte. Sie trug ein lose sitzendes, kornblumenblaues Hemd und nichts darunter, und obwohl kein Fenster offen war und sich im Zimmer kein Lüftchen regte, schien es sich unter einer leichten Brise verführerisch an ihren Körper zu schmiegen. Adrian merkte, wie sich sein Puls beschleunigte. Die Cassie, die ihn vom Bett aus anlächelte, war vielleicht gerade mal achtundzwanzig, wie in dem Jahr, in dem sie sich kennenlernten. Ihre Haut strahlte vor Jugend, jede Kurve ihres Körpers, ihrer zarten Brüste, schmalen Hüften und langen Beine war handgreiflich lebendige Erinnerung. Sie schüttelte die dunkle Mähne und zog kaum merklich die Mundwinkel herunter, so wie sie es immer tat, wenn sie mit etwas nicht einverstanden war; es bedeutete, dass es ihr sehr ernst war und dass er ihr gut zuhören musste. Er hatte in ihrer Ehe nicht lange gebraucht, um mitzubekommen, wann ihr etwas wichtig war.
    »Du siehst schön aus«, sagte er. »Weißt du noch, wie wir damals nachts im August am Cape nackt im Meer gebadet haben und danach in den Dünen unsere Kleider nicht wiederfanden, weil wir mit der Strömung abgetrieben waren?«
    Cassandra schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich das vergessen? Das war unser erster gemeinsamer Sommer. Ich kann mich an jede Einzelheit erinnern. Aber deshalb bin ich nicht hier.
Du weißt, was du gesehen hast.
«
    Adrian hätte ihr gerne mit den Fingerspitzen über die Haut gestrichen, um sich jede elektrisierende Berührung ins Gedächtnis zu rufen. Doch er hatte Angst, sie könnte verschwinden, wenn er die Hand nach ihr ausstreckte. Er war sich nicht ganz im Klaren, wie er mit dieser Halluzination umzugehen hatte, welche Regeln dafür galten. Nur dass sie nicht gehen sollte, wusste er mit absoluter innerer Gewissheit. »So ganz stimmt das nicht«, antwortete er langsam. »Ich bin mir keineswegs sicher.«
    »Ich weiß, das ist letztlich nicht dein Gebiet«, sagte Cassie. »Jedenfalls nicht genau. Du hast nicht zu den Jungs von der Forensik gehört, die Serienmörder und Terroristen dekonstruieren und dann ihre Studenten mit den blutrünstigen Details bei Laune halten. Du hast diese Ratten in ihren Käfigen und den Labyrinthen geliebt, du wolltest rausbekommen, was sie machen, wenn sie die richtigen Impulse bekommen. Aber du verstehst mit Sicherheit genug von Psychopathologie, um den vorliegenden Fall richtig einzuschätzen.«
    »Das kann alles Mögliche gewesen sein. Und bei meinem Anruf hat die Polizei gesagt …«
    Cassie fiel ihm ins Wort. »Es interessiert mich nicht, was sie dir gesagt haben. Sie war da, auf dem Bürgersteig, und dann war sie plötzlich verschwunden.« Sie legte den Kopf zurück, als suchte sie an der Decke oder am Himmel nach der Antwort – noch so eine vertraute Geste, die ihm sagte, er solle nicht so stur sein. Sie war Künstlerin gewesen und hatte die Dinge mit den Augen einer Künstlerin erfasst:
Zieh eine Linie, mach einen Pinselstrich auf der Leinwand – das Übrige klärt sich dann von selbst
. Diesem Blick gen Himmel folgte immer etwas Forderndes, Zugespitztes. Er hatte diese Gewohnheit geliebt, weil sie sich dann immer so sicher schien. »Es war ein Verbrechen«, fuhr sie fort. »Kann gar nicht anders sein. Du bist Zeuge geworden. Durch Zufall. Einen Glücksumstand. Was auch immer. Nur du. Jetzt hast du also ein paar wenige, zusammenhanglose Teile in einem schwierigen

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