Der Professor
werden wolltest, deine Familie, deine Freunde, alles, was dir einmal vertraut war, existiert nicht mehr. Es gibt nur diesen Raum und das, was hier passiert.«
Wieder überprüfte Linda Jennifers Körpersprache, als suchte sie nach einem Zeichen, dass sie verstanden hatte. »Von jetzt an gehörst du uns.«
Das Mädchen schien sich zu versteifen, doch sie heulte nicht los. Das hatten sie schon anders erlebt. Besonders Nummer 3 hatte sich fast auf jeder Etappe des Weges gewehrt, gebissen und geschrien, was natürlich nicht nur Nachteile gehabt hatte, nachdem ihr und Michael klargeworden war, welche künstlerischen Techniken darauf anzuwenden waren. Es kam eine andere Art von Drama dabei heraus, und das war wiederum Teil des Abenteuers und der Faszination. Jede Versuchsperson erforderte ein eigenes Regelwerk. Jede war vom ersten Moment an einzigartig. Sie spürte, wie die Erregung sie warm durchrieselte, doch sie beherrschte sich. Sie betrachtete das Mädchen auf dem Bett.
Sie hört aufmerksam zu,
dachte Linda.
Kluges Kind.
Nicht schlecht,
dachte Linda dann.
Wirklich nicht schlecht. Sie wird etwas Besonderes.
Innerlich schrie Jennifer, als könnte sie wenigstens ein wenig von der blanken Angst hinausbrüllen, damit es durch die Haube, an diesen Ketten vorbei durch die Wände und die Decke drang und es irgendjemand hörte. Sie hatte das Gefühl, wenn sie irgendeinen Laut von sich geben könnte, würde es ihr vielleicht dabei helfen, sich zu erinnern, wer sie war, und nicht zu vergessen, dass sie noch lebte. Doch sie schrie nicht, sondern biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszuschluchzen. Es gab nur Fragen und keine Antwort.
Sie spürte, dass die Stimme näher kam. Eine Frau?
Ja.
Die Frau in dem Transporter?
Wer sonst.
Jennifer versuchte sich zu erinnern, was sie gesehen hatte. Ihr gelang nur ein ganz kurzer Blick auf eine Frau, die älter war als sie, aber nicht so alt wie ihre Mutter, und eine schwarze Strickmütze über das Haar gezogen hatte.
Blondes Haar.
Sie sah eine Lederjacke, doch das war’s auch schon. Der Schlag, der sie im Gesicht getroffen hatte, so dass sie ins Wanken kam, hatte alles andere ausgelöscht.
»Hier …« Es hörte sich an, als würde ihr etwas angeboten, doch sie wusste nicht, was. Sie hörte ein metallisches Schnappgeräusch und fuhr unwillkürlich zurück. »Nein, nicht bewegen.«
Jennifer erstarrte.
Es verging ein Moment, dann fühlte sie, wie die losen Falten ihrer Haube nach vorne gezogen wurden. Sie war sich immer noch nicht im Klaren, was jetzt passierte, doch dann hörte sie das Geräusch einer Schere. Ein Stück Stoff fiel herunter und hinterließ eine kleine Öffnung an ihrem Mund.
»Wasser.«
Ein Plastikstrohhalm wurde durch den Schlitz geschoben, so dass er ihr gegen die Lippen stieß. Sie hatte plötzlich schrecklichen Durst – so sehr, dass alles andere, was passierte, erst einmal hinter dem Wunsch zurückstand, etwas zu trinken. Sie ergriff den Strohhalm mit der Zunge und den Lippen und sog fest daran. Das Wasser war etwas salzig, mit einem undefinierbaren Beigeschmack.
»Besser?« Sie nickte. »Du wirst jetzt schlafen. Später erfährst du, was genau von dir erwartet wird.«
Jennifer hatte einen Geschmack wie nach Kreide auf der Zunge. Unter der Kapuze merkte sie, wie ihr im Kopf alles herumwirbelte. Sie verdrehte die Augen, und als sie erneut in innere Dunkelheit versank, fragte sie sich, ob sie vergiftet worden war, was keinerlei Sinn ergab. Nichts ergab einen Sinn außer dem schrecklichen Gefühl, dass die Frau mit der monotonen Stimme und der Mann, der sie bewusstlos geschlagen hatte, genau zu wissen schienen, was sie wollten. Sie hatte ein unbändiges Verlangen, etwas laut zu rufen, zu protestieren oder einfach nur ihre eigene Stimme zu hören. Doch bevor sie irgendwelche Worte formen und über die rissigen Lippen bringen konnte, hatte sie das Gefühl, auf einem schmalen Grat zu schwanken. Und als die unverhohlen ins Wasser gemischte Droge sie richtig erfasste, merkte sie nur noch, wie sie fiel.
8
B is sie in ihr Büro kam, war es weit nach Mitternacht. Abgesehen von der Telefonzentrale und ein paar Streifenpolizisten, die Nachtdienst schoben, war das Gebäude verwaist. Die Kollegen, die über das nahe gelegene College und die Vorstadtstraßen wachten, waren draußen auf Streife oder tummelten sich in einem Dunkin’ Donuts, um sich mit Kaffee und einem süßen Snack zu stärken.
Sie eilte zu ihrem Schreibtisch und rief augenblicklich die
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