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Der Professor

Titel: Der Professor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Stellen, an denen sie die Schläge abbekommen hatte, fühlten sich immer noch wund an.
    Ihr Denken war von dem Betäubungsmittel, das sie bekommen hatte, nach wie vor benebelt. Aber sie war am Leben. Mehr oder weniger jedenfalls. Sie erinnerte sich vage an die Begegnung mit der Frau. Sie hatte über Regeln gesprochen. Es kam Jennifer so vor, als hätte diese Unterhaltung an einem anderen Tag, in einem anderen Jahr, vielleicht sogar im Traum stattgefunden.
    Tausend Möglichkeiten stürmten auf sie ein, doch jede war schlimmer als die andere, und sie zwang sich, diese Gedanken zu vertreiben und einen klaren Kopf zu bekommen. Unter der Kapuze schien zwar alles leer und unmöglich, doch immerhin atmete sie noch, und das war nicht wenig.
    Vorsichtig strich sie mit den Fingern die Kette entlang und folgte ihrem schlaffen Bogen bis zu der Stelle, an der sie hinter und über ihrem Kopf an der Wand befestigt war. Sie hatte ein fast unwiderstehliches Bedürfnis, an der Kette zu ziehen und zu sehen, ob sie sich losreißen konnte. Doch sie kämpfte dagegen an. Das würde zweifellos gegen die Regeln verstoßen.
    »Sie ist wach!«
    Der Mann, der sich in London über seinen Bildschirm beugte, erstarrte. Er war in dem kleinen Arbeitszimmer im hinteren Teil seiner Wohnung allein und saß an einem Schreibtisch, auf dem sich ein Durcheinander an Plänen, Berechnungen und schematischen Zeichnungen stapelte. Er war technischer Zeichner, und im selben Raum befand sich ein hoher Tisch, an dem er gelegentlich Illustrationen in Bleistift und Tinte anfertigte – auch wenn er inzwischen den größten Teil seiner Arbeit mit hochkomplizierten Computerprogrammen erledigte. Er wünschte sich, es wäre jemand da, mit dem er sein Staunen hätte teilen können; doch dann hätte das Ganze nicht funktioniert. Serie Nummer 4 musste man allein und in völliger Privatsphäre genießen, auf sich wirken lassen und verdauen.
    Nummer 4 schien ihm verlockend jung zu sein, noch fast ein Kind. Er hatte Kinder aus einer gescheiterten Ehe, die er aber nur selten sah und die für ihn in diesem Moment in weiter Ferne waren. Er bewunderte die schlanke Figur von Nummer 4 und merkte, wie ihn Erregung durchströmte. Er stellte sich vor, dass sich ihre Haut wie eine Perle anfühlte, und seine linke Hand zuckte bei dem Impuls, Nummer 4 durch den Computerbildschirm zu streicheln. Als könne jemand seine Gedanken lesen, wechselte die Kameraeinstellung zu einer Nahaufnahme. Nummer 4 streckte wie eine Blinde tastend die Arme aus. Jeder Griff ins Leere – in die Luft oder an die Wand, an der sie angekettet war – jagte dem Zeichner freudige wohlige Schauder den Rücken herunter. »Sie will wissen, wo sie ist«, sagte er wieder laut, ohne dass es jemand hörte. »Aber das wird sie nicht herausbekommen …«
    Nummer 4 blieb in der Nähe des Bettes und spielte Blindekuh. Jedes Mal wenn sie sich bewegte, beugte sich der Mann in London näher zu ihr heran. Gewissermaßen, dachte er, war er so allein wie sie, auch wenn er wusste, dass rund um den Globus viele andere Menschen Nummer 4 mit der gleichen Hingabe beobachteten.
    Er bezweifelte, dass sie jemals im Fernsehen Patrick McGoohan in
The Prisoner
gesehen hatte oder in eine Bibliothek gegangen war, um John Fowles’
Der Sammler
zu lesen. Wahrscheinlich hatte sie noch nie etwas von Barbara Jane Mackle und den Zeitungsartikeln gehört, die über sie erschienen waren, oder von dem Buch oder der darauf basierenden Fernsehinszenierung. Vielleicht hatte sie ja die
Saw
-Filme gesehen, die Jungen in ihrem Alter wegen der Mischung aus Blut und Folter und nackten Brüsten liebten, oder auch harmlosere Varianten wie
Die Truman Show
. Doch ob Nummer 4 diese Bilder mit ihrer eigenen Situation in Verbindung bringen würde, blieb fraglich, und er wusste, dass sie nie Sir Alec Guinness in seinem Wellblechkasten gesehen hatte, in dem er vor Hitze fast umgekommen wäre, nur weil er sich geweigert hatte, seinen Offizieren zu befehlen, die Brücke über den Kwai zusammen mit gemeinen Soldaten zu bauen. Für sie existierte das alles nicht. Er vermutete, dass sie weder von Kunst und Literatur noch von der Kriminalität der Freiheitsberaubung irgendeine Ahnung hatte. Er fragte sich, ob sie als Kind ein Haustier besessen hatte, und sei es auch nur einen Goldfisch in einem kleinen Bassin, der ständig gegen das Glas anschwimmt, das ihm die Grenzen seiner Welt aufzeigt.
    Er sah, dass Nummer 4 zitterte. Er schüttelte den Kopf. Kein Haustier. Dann

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