Der Profi
ihren Arbeitsplatz. Am stärksten betroffen waren die Armee und die Sicherheitskräfte. Im Jahr 1992 kündigte KGB-Chef Viktor Barannikow an, die Mitarbeiterzahl des russischen Geheimdienstes radikal zu kürzen. Bereits ein Jahr vorher waren zahlreiche Offiziere aus der Armee entlassen worden. Später gab das Verteidigungsministerium bekannt, dass man die Anzahl der Soldaten stark reduzieren werde. Nicht anders erging es der Polizei, viele Beamte verloren ihre Arbeit. Alle aber besaßen sie eine vorzügliche Ausbildung im Umgang mit Waffen und beherrschten vor allem eins: die hohe Kunst des Tötens. Ein beträchtlicher Teil von ihnen landete bei der Mafia. Sie waren bestens bewaffnet und neugierig auf die Möglichkeiten, die ihnen der neu entstandene Kapitalismus bot.
Dratschew war einer von ihnen. Noch bis zum Jahr 1994 war er Oberst der russischen Armee gewesen. Dann suchte er sich einen lukrativeren Job. Er war ein ziemlich gefährlicher Zeitgenosse und hatte sein Handwerk bei zahlreichen Einsätzen in Kriegsgebieten gelernt. Besonders während des Afghanistan-Kriegs hatte er sich einen Ruf als rücksichtsloser Draufgänger erworben, der sich aufgrund seiner wenig zimperlichen Vorgehensweise in den letzten zehn Jahren noch verstärkt hatte.
Javier Moncada präsentierte dem Oberst seine Dienstmarke. Dratschew prüfte sie eingehend.
»Haben Sie eine Vermutung, wer Tschernekow umgebracht haben könnte?«
»Nein. Aber ich werde mich persönlich darum kümmern herauszufinden, wer der Betreffende ist.«
»Dratschew, dass wir uns richtig verstehen: Ihre Aufgabe ist es, um den Toten zu trauern, und unsere, nach dem Mörder zu fahnden! Am Ende wandert der Schul dige ins Gefängnis, und irgendwann lassen ihn die Richter wieder frei. Ich weiß, dass das alles ein Riesenschwachsinn ist, aber so sind nun mal die Regeln in unserem Land.«
»Bei uns laufen die Sachen anders«, sagte der Oberst. »Wir kümmern uns selbst!«
»Reden Sie keinen Mist, Dratschew, wir sind hier nicht in Russland«, versetzte Moncada.
»Passen Sie auf, was Sie sagen!«, erwiderte Dratschew.
Moncada ließ die Drohung an sich abprallen.
»Ihr Boss ist in letzter Zeit zwar vielen Menschen auf die Füße getreten. Allerdings kann ich mir nur schwer vorstellen, dass irgendwer hier auf der Insel den Mumm hätte, ihn umzubringen.«
Dratschew schwieg.
»Kommen Sie, Oberst … einen Namen ! An wen soll ich mich wenden?«
»An niemanden. Ich erledige das selbst!«
»So ein Trottel«, murmelte Cruz.
Der Russe verlor seine anfängliche Gelassenheit, und seine Lippen verformten sich zu einer dünnen Linie.
»Was meine Kollegin so blumig ausdrückt, bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass es uns am liebsten wäre, wenn Sie den Killer selbst umbringen – gesetzt den Fall, Sie wissen, wer der Mörder ist. Auf diese Weise wären wir mit einem Schlag die Kanaille Tschernekow, seinen Mörder und Sie selbst los, Dratschew. Denn das können Sie mir glauben: Wir würden wie die Aasgeier im Sturzflug über Sie herfallen!«
Oberst Dratschews Gesichtszüge verhärteten sich noch mehr. Die kühl kalkulierte Kontrolle, mit der er sei nen cholerischen Charakter im Zaum zu halten pflegte, schien erste Risse zu bekommen. Señora Tschernekowa, die hinter ihm stand, verfolgte das Gespräch teilnahmslos. Sie schien eher verärgert als traurig über den Mord an ihrem Gatten.
»Natürlich würde mir das eine Menge Arbeit ersparen«, fuhr Moncada fort. »Aber leider kann ich mich nicht ganz aus der Sache heraushalten. Mein Boss ist ein Perfektionist, er wäre wahrscheinlich wenig amüsiert darüber, dass … Also, Dratschew, warum kommen Sie mir nicht ein bisschen entgegen und geben mir einen kleinen Tipp, mmh?«
Der Oberst sah Moncada an, aber seine Lippen öffneten sich keinen Millimeter.
Cruz gab einen Seufzer von sich und sagte:
»Ich glaub, mit dem Idioten vergeuden wir bloß unsere Zeit!«
Um nicht völlig aus der Rolle zu fallen, biss sich Oberst Dratschew auf die Oberlippe. Er war es nicht gewohnt, dass jemand in diesem Ton mit ihm sprach. Und am wenigsten eine Frau.
» Shluha! «, zischte der Russe.
Daraufhin rückte Cruz ganz nah an Dratschews Gesicht heran. Auch ihre Selbstbeherrschung war am Limit angelangt.
»Ich bin in diesem Haus jetzt schon zum zweiten Mal als ›Nutte‹ bezeichnet worden! Beim nächsten Mal steck ich euch alle wegen Amtsbeleidung in den Bau und bleib die Nacht über hier, um sämtliche Schubladen zu durchwühlen. Ich
Weitere Kostenlose Bücher