Der Profi
die Uniformierten eintrafen, aber wir mussten es unter größten Sicherheitsvorkehrungen tun für den Fall, dass Jarrete und seine Männer sich vor dem Haus verschanzt hatten. Ich befahl Cruz, solange im Zimmer zu bleiben. Ich musste zuerst die Umgebung sondieren. Also stieg ich vorsichtig die Treppe hinunter und näherte mich dem offenen Eingang. Die Tür hing aus den Angeln, das Holz war zersplittert. Ich sah keine Menschenseele, was allerdings nicht viel zu heißen hatte. Dann lief ich aus dem Haus und rannte durch den Garten. Der Schweiß lief mir über den Rücken, mein Herz schlug wie wild. Dann wurde mein Körper von dem unbehaglichen Gefühl ergriffen, dass ich – einmal mehr in meinem Leben – in die Schusslinie geraten war …
In den Zimmern der benachbarten Villen, wo vorher alles finster gewesen war, brannte Licht: Meine »Lärmtaktik« hatte also funktioniert! Die Polizei würde nicht lange auf sich warten lassen.
In Kauerstellung und Deckung suchend, wo immer ich konnte, lief ich an dem Mercedes auf Palacios’ Grundstück vorbei und sah, dass mein Auto noch immer vor dem Haus geparkt war. Ich pfiff einmal laut. Das war mein Zeichen für Cruz, dass die Luft rein war. Doch sie war bereits kurz hinter mir. Unser Atem hinterließ in der kalten Nachtluft Dunstschwaden. Es erstaunte mich, dass der Geländewagen, den Gagarin uns geliehen hatte, noch immer völlig intakt war. Natürlich ergab das einen Sinn: Jarrete war nicht daran interessiert, dass wir von der Polizei festgenommen wurden. Er brauchte uns lebendig, aber nicht beim Verhör auf einem Kommissariat. Er wollte, dass wir am Leben blieben, bis er selbst unserem Leben ein Ende setzen konnte!
Ich sah keine Nische, keinen Ort, an dem sich Jarretes Helfershelfer versteckt haben konnten; trotzdem lief ich mit meiner Glock im Anschlag, den Daumen dicht über dem Abzug. Ein Nachbar, der in diesem Moment aus dem Haus gekommen wäre, wäre durch meine Erscheinung wahrscheinlich zu Tode erschreckt worden. Als ich den Geländewagen erreicht hatte, legte ich mich auf den Boden und sah unter dem Auto hindurch: Auf der anderen Seite war niemand. Dann stiegen wir ein und preschten mit eingezogenem Kopf zur Ausfahrt der Wohnanlage hinaus. Als Erstes mussten wir uns des Wagens entledigen. Falls einer der Nachbarn (um seiner Gattin Heldenmut zu beweisen) sich das Kennzeichen unseres Geländewagens notiert hatte, wäre in weniger als einer halben Stunde auch der letzte Parkhausangestellte in Madrid darüber informiert. Auf dem Weg zur Autobahn begegneten wir mehreren Streifenwagen, die mit heulenden Sirenen aus der entgegengesetzten Richtung kamen.
»Die Macht beugt sich nur in ganz seltenen Fällen der Justiz! Die Gerechtigkeit mästet sich auf Kosten der Schwachen. Diejenigen, die an den Hebeln der Macht sitzen, die Reichen und die, die an der Spitze der Pyramide leben, stehen über der Gerechtigkeit. Wenn du Gerechtigkeit schaffen willst, musst du Selbstjustiz üben! Es gibt zwei Sorten Menschen: Die mit und die ohne Einfluss. Letztere werden normalerweise niedergetrampelt, und Erstere werden ernst genommen. Das ist so. Ob es dir gefällt oder nicht. Deshalb musst du stets beweisen, dass du ein starker und gefährlicher Gegner bist: Nur dann wird man beim nächsten Mal mit dir verhandeln. Bricht dir jemand die Hand, musst du ihm beide Beine brechen. Du musst deine Feinde ausbluten. Und zwar gnadenlos, Lucca, gnadenlos … Die Welt kennt keine Gnade!«
Das waren die Worte meines Zío Enzo, als ich noch unter seiner Obhut in der Bronx lebte. Das ist viele Jahre her. Ich habe schon viel zu lange nicht mehr mit ihm gesprochen.
Als Fuad das Telefongespräch beendet hatte, befand er sich im Schockzustand. Um ihn herum waren die Gäste noch immer mit ihren Weingläsern und Kanapees zu Gange. Essen war stets der beste Vorwand, um sich nicht mit den ausgestellten Bildern auseinandersetzen zu müssen. Überraschenderweise klebte auf einigen von ihnen ein kleiner roter Punkt: » VERKAUFT «. Der Teil von Fuads Gehirn, der nicht unter Schock stand, überlegte sich in diesem Moment, ob er vielleicht eines der Bilder erwerben könnte, um die beiden Schwestern zu beeindrucken.
»War das der Mafioso?«, fragte Marcial erschrocken. Fuad bestätigte es mit einem kurzen Nicken.
»Welcher Mafioso?«, erkundigte sich Barbara.
Marcial hätte sich am liebsten selbst in den Hintern gebissen. Mich vor ihrer Arbeitskollegin zu erwähnen war ein unentschuldbarer Anfängerfehler!
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