Der Profi
war bloß passiert?) –, ließ Cruz noch heftiger aufs Gaspedal treten. Sie fuhr, viel zu schnell für ihren klapprigen Dienstwagen, über verlassene Nebenstraßen. Hatte es Tote gegeben? Hatte es etwas mit Sergej Tschernekow zu tun? Ohne vom Gas zu gehen, bog sie in die Calle Baró de Pinopar ein, anschließend nahm sie den Weg Richtung Valldemossa. Ein Kreisverkehr folgte dem nächsten, Autos mit Berufstätigen auf dem Weg zur Frühschicht, Touristen, fern der Heimat, auf der Suche nach Lust und schnellem Sex. Palma de Mallorca lag in tiefen Schlaf gehüllt – in der ruhigen Gewissheit, dass sich andere um die Sicherheit der Stadt kümmerten. Cruz überholte einen Rettungswagen und kurz darauf ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr (ein böses Omen?). Beide waren in dieselbe Richtung unterwegs wie sie.
Über mehrere Kilometer Landstraße raste ihr Dienstwagen ins Landesinnere. Dann kam die Strecke, die in die Sierra de Tramontana hinaufführte mit Ausblick auf Täler und die für die Gegend typischen steinernen Landhäuser. Fünf Minuten später tauchte Valldemossa am Horizont auf, wie festgewachsen auf dem felsigen Gestein zwischen den beiden Bergen. Dahinter sah man die Kartause, die Chopin zu seinen Nocturnes inspiriert hatte. (Touristen bekamen meist ein schmales Zimmerchen gezeigt, in dem Chopin nie gewohnt hatte, und ein Klavier, das nicht sein eigenes gewesen war.) Cruz Navarro erreichte Valldemossa in Rekordgeschwindigkeit. Sie durchquerte den Ortskern und fuhr über die schmale asphaltierte Straße weiter, auf der man die Gemeinde Richtung Westen verlässt. Danach ging es durch ein Tal mit Oliven- und Johannisbrotbäumen, Kiefern, Zypressen, Palmen und Resten prähistorischer Talayots . An dessen Ende lag die George-Sand -Siedlung.
Die beiden Gestalten, auf die Cruz in der letzten Kurve, kurz vor der Auffahrt zu Tschernekows Villa, stieß, überraschten sie dermaßen, dass sie eine Vollbremsung ausführen musste. Auf dem feuchten Boden geriet ihr Wagen ins Schleudern, sodass ihr der Gurt gegen die Brust schlug und das Scheinwerferlicht in den erstaunten Gesichtern der beiden Uniformierten aufflackerte. Diese hatten die Anweisung erhalten, die wenigen Fahrzeuge umzuleiten, die um diese Stunde ins Wohnviertel kamen oder es verlassen wollten.
»Was ist passiert?«, rief Cruz durch die Fensterscheibe.
Einer der Polizisten deutete stumm auf den grün schimmernden Metallzaun, der von den Stroboskopleuchten mehrerer Polizeifahrzeuge und eines Krankenwagens angestrahlt wurde. Er gehörte zu einem Anwesen, das Cruz wie ihre Westentasche kannte. Sie schaltete das Blaulicht aus und parkte hinter einem eleganten Peugeot, dem Wagen ihres Chefs. Der Gedanke an ihren Vorgesetzten half nicht, ihren Kater der vergangenen Nacht zu lindern. Eher im Gegenteil. Wenigstens war Palmas Dauerregen in der Zwischenzeit in leichtes Nieseln übergegangen.
Mehrere Polizeibeamte bewachten den Eingang zu Sergej Tschernekows Villa, während zwei Nachbarn unter ihren Regenschirmen das Schauspiel verfolgten: eine Frau in Morgenmantel und Gummistiefeln und ein älterer Herr, glatzköpfig, vermutlich über achtzig, dem Aussehen nach ein Deutscher. »Zu meiner Zeit hätten wir alle Nachbarn zum Aussagen gezwungen und den Mörder im Handumdrehen ins Arbeitslager gesteckt!«, frotzelte er. Die Frau neben ihm nickte zustimmend. Die Lichter im Haus gegenüber, Wohnsitz eines gewissen Señor Vila, eines Architekten aus Barcelona und mehr oder weniger treuen Ehemanns, waren ebenfalls angegangen. Vilas Frau hielt sich, nach Cruz’ Informationen, im Moment in Barcelona auf, um ihre kranke Mutter zu pflegen.
Die George-Sand -Siedlung liegt auf einer Bergkuppe über dem Hafen von Valldemossa. Nach Westen hin öffnen sich unvergleichliche Blicke aufs Mittelmeer. Östlich be findet sich ein von Olivenbäumen gesäumtes Tal, das Bauunternehmer zu einer Golfanlage umgestalten wollen, weswegen es zum Schauplatz beharrlicher Proteste von Mallorcas Grünen geworden ist, die ihre geheiligte mallorquinische Naturlandschaft mit Leidenschaft verteidigen.
Entlang der mäanderförmigen Straßen des Viertels erstrecken sich zweistöckige Luxusvillen mit Mallorcas typischen Steinfassaden in verschiedenen Farbabstufungen: Grau, Braun, Weiß und Sandfarben. Sie alle sind von grünen Metallzäunen, Sicherheitssystemen und Alarmanlagen umgeben, die ihren Zweck jedoch nicht ausrei chend erfüllen. In ihnen leben Architekten, Schriftstel ler, Unternehmer, Anwälte und
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