Der Prophet des Teufels
Erdboden verschluckt. Niemand hat ihn gesehen. Niemand weiß, mit wem er zuletzt geplaudert hat. Niemand weiß, wo er hinging. Er wollte von seiner Wohnung aus ins Café gehen. Aber er ist niemals angekommen.
Die »Scala« wartet zwanzig Minuten, fünfundzwanzig. Dann kann sie es nicht länger verheimlichen. Direktor Duisberg geht auf die Bühne.
»Meine Damen und Herren, ich habe die unangenehme Aufgabe, Ihnen mitzuteilen, daß der Star unseres Programms, Erik Jan Hanussen, leider plötzlich erkrankt ist. Ihre Eintrittskarten behalten selbstverständlich Gültigkeit, wenn Sie sich nach Schluß der Vorstellung einen Stempel daraufdrücken lassen. Entschuldigen Sie bitte die Absage. Sie ist leider unvermeidlich.«
Viele der Gäste sind mit dem Tausch nicht unzufrieden. Sie haben das Programm ohne Hanussen gratis gesehen und kommen in der nächsten Woche wieder, um die Schau mit Hanussen zu erleben. Sie stehen Schlange, um den Gültigkeitsstempel zu erhalten. Für ein Geld zweimal ausgehen, nicht schlecht!
Keiner der Gäste, die an diesem Abend die »Scala« verlassen, keiner von Hanussens Freunden oder Feinden, keiner von seinen Gönnern und Neidern ahnt, daß er den Hellseher niemals wiedersehen wird. Der Vorhang über dem Leben von Erik Jan Hanussen, alias Heinrich Steinschneider, dem Magier, dem Frauenliebling, dem politischen Hasardeur, ist gefallen. Für immer. Der Teufel hat des Teufels Propheten gefaßt.
Hanussen war am Morgen in besonders guter Laune aufgestanden. Er hatte sein Frühstück mit den üblichen Späßen zelebriert. Um elf Uhr fuhr er zur Bank. Rings um ihn machen Leute Karriere: Aus Proleten werden Direktoren, aus Handelsvertretern Gauleiter. Hanussen ist entschlossen, sich auch ein Stück aus dem nationalsozialistischen Kuchen herauszuschneiden. Seine große Schwäche war von jeher seine Eitelkeit. Er gibt eine astrologische Zeitung heraus. Aber das genügt ihm nicht mehr. Er will ganz groß in die Presse einsteigen. Er will, daß die Zeitungen unter seiner Leitung seine Meinung und seine Wünsche multiplizieren. Er hält Ausschau nach einem geeigneten Objekt.
Im Verlagshaus Mosse hat man Sorgen. Der Inhaber hat sich in das Ausland abgesetzt und dem Verlagsleiter Vetter die Geschäfte überlassen. Im Haus flaniert der uniformierte Kommissar Ohst herum. Auf dem jüdischen Besitz machen sich die ersten Schmarotzer breit.
Hanussen fährt vor. Er läßt sich beim Verlagsleiter melden.
»Was kostet Ihr ›Berliner Tageblatt‹?« fragt er.
»Wollen Sie es kaufen?«
»Unter Umständen.«
Der Direktor lächelt.
»Ich schätze Sie sehr, Hanussen. Aber jetzt überschätzen Sie sich.«
»Warum?« entgegnet der Hellseher. »Mit Hilfe meiner Freunde kann ich viel erreichen. Sie wissen ja. Und Sie werden hier wenig Glück haben. Meinen Sie nicht? Die Mosse-Blätter haben sich der Bewegung gegenüber nicht sehr schön benommen.«
Der Direktor ist aufgestanden. Er geht mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Hat er einen Verrückten vor sich? Soll er die Nervenklinik alarmieren? Oder hat Hanussen tatsächlich eine Chance, sich das ›Berliner Tageblatt‹ unter den Nagel zu reißen? Hanussen, der selbst jüdischer Abstammung ist, will jüdischen Besitz »arisieren«?
»Wir können morgen noch einmal miteinander telephonieren.«
Der Direktor verständigt Kommissar Ohst von dem Gespräch. Ohst läuft mit rotem Kopf davon.
»Das muß ich melden.«
Es ist nicht die erste »Meldung«, die über den Hellseher eingeht. Graf Helldorf ist zu Göring befohlen.
»Lesen Sie diesen Brief«, sagt der rundliche preußische Ministerpräsident.
Helldorf überfliegt das Schreiben:
»… Wie kommt es, daß Juden mit hohen SA-Führern befreundet sind? Wie kommt es, daß Erik Jan Hanussen, alias Heinrich Steinschneider, einen ganzen SA-Sturm kommandiert? Warum wird er vom Grafen Helldorf und seinen Leuten in so auffälliger Weise protegiert? Wir haben für die Erneuerung Deutschlands gekämpft. War das der Erfolg unseres Kampfes? – Ein alter SA-Mann.«
Helldorf legt den Brief aus der Hand.
»Gehen Sie der Sache einmal nach«, sagt Göring jovial. »Sie müssen das schleunigst regeln, bevor es noch weitere Kreise zieht.«
Helldorf nickt. Die Führung der Berliner SA gibt er vorübergehend ab. Er wird nach Potsdam versetzt, als Landesgestütsmeister. Zur Übersiedlung benötigt er Hanussens Auto nicht mehr. Er hat jetzt seinen eigenen Wagen. Die SA marschiert nicht mehr – sie fährt.
Um zwölf Uhr
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