Der Protektor von Calderon
möglicherweise einen Erben gezeugt hatte, würden sie diesen mit Sicherheit töten. Deshalb hat sie dich versteckt. Sie hat dich darüber belogen, wer deine Mutter ist. Beim Baden hat sie mit Wasserkräften dein Wachstum verlangsamt. Niemand sollte bei deinem Anblick auf den Gedanken kommen, du könntest das Kind von Septimus sein, weil du aussahst, als wärest du lange nach dessen Tod geboren.«
Araris trat vor und legte Tavi eine Hand auf die Schulter. »Ich habe ihr geholfen«, sagte er ruhig. Er deutete auf sein vernarbtes, gebrandmarktes Gesicht. »Das habe ich mir selbst zugefügt, Tavi. Araris Valerian sollte für tot gehalten werden, denn wenn jemand mich erkannt hätte, wäre er sicherlich neugierig geworden und
hätte sich gefragt, warum ich einen kleinen Jungen beschütze. Deshalb wurde ich zu Faede. Zu einem einfachen Sklaven. Die Narbe gehörte zu meiner Tarnung. Niemand hat sich je das Gesicht angeschaut, das sich darunter befand.«
Tavi starrte den älteren Mann an. Dann hörte er sich selbst sagen: »Deshalb wollte sie letztens mit mir reden.«
Araris verzog das Gesicht und nickte. »Sie hat es versucht. Doch sie hatte Angst vor dem, was passieren könnte, wenn sie es dir sagt.«
Vor Tavis Augen verschwamm die Welt, und die Tränen schienen den Schmerz noch zu vergrößern. »All die Jahre hindurch … hat sie mich angelogen. Sie hat gelogen.« Er riss den Kopf hoch, als ihm ein anderer Gedanke wie ein Blitz durch den Sinn schoss. »Deshalb konnte ich nie … Sie hat es gewirkt. Sie hat mein Wachstum verlangsamt. Sie hat meine Kräfte versteckt - und ich habe nichts davon geahnt …«
»Tavi«, sagte Araris ruhig. »Warte. Du musst verstehen, dass sie nur aus Liebe zu dir gehandelt hat. Sie hatte nicht viele Möglichkeiten, und sie hat alles getan, um dich zu beschützen.«
»Nein«, fauchte Tavi. Sie hatte es ihm angetan. Die Jahre der Demütigung, die Qual, von allen als eine Missgeburt betrachtet zu werden, die über keinerlei Elementarkräfte verfügt, verhöhnt und verachtet, wo immer er auch hinging. Er war nicht als Missgeburt auf die Welt gekommen, er war nicht das Opfer eines entsetzlichen Unglücks, wie er sich das immer vorgestellt hatte.
Das hatte ihm jemand angetan.
Seine Mutter hatte es ihm angetan.
Ein Teil von Tavi hörte durchaus auf Araris’ Worte, und dieser Teil wusste, dass sein Singulare vermutlich recht hatte, doch nur in einer sehr kleinen, sehr fernen Welt. Der Schmerz, der Zorn und die Demütigung ließen wenig Raum für alles andere.
»Tavi«, sagte Araris, »du musst dich beruhigen. Sie hat nur das Beste gewollt.«
»Nein!«, zischte Tavi, und die Wut verlieh seiner Stimme eine
böse Schärfe. »Sie hat mich belogen. Sie hat mir meine Elementarkräfte geraubt.« Seine Stimme wurde lauter und lauter und ließ sich nicht mehr von ihm beherrschen. »Weißt du, wie viele Nächte ich schlaflos dalag, wie oft ich gelitten habe, weil ich die Missgeburt ohne Elementare war? Hast du eine Ahnung, welche Demütigungen ich über mich ergehen lassen musste? Wie allein ich mich ständig gefühlt habe?«
»Tavi«, erwiderte Araris ruhig, als spräche er mit einem verängstigten Pferd, »beherrsch dich doch. Denk nach, Mann. Sie ist jetzt dort draußen, und es hat ihr das Herz zerrissen. Du weißt nicht, was passiert, wenn du zu einem Feldzug aufbrichst. Du weißt nicht, ob du sie je wiedersiehst. Du musst mit ihr reden. Du musst diese Sache klären, solange du noch die Gelegenheit dazu hast.«
Tavi starrte ihn nur ungläubig an. »Klären? Die Sache klären? Ich? Sie hat mich belogen, ehe ich laufen konnte, und ich soll die Sache klären?« Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und spürte das Zittern und die Tränen. »Heute kommst du damit an. Wenn wir losmarschieren sollen und ich die Verantwortung über fünftausend Mann habe. Das bürdest du mir ausgerechnet heute auf.«
»Tavi«, sagte Araris. »Sie ist deine Mutter. Es ist notwendig, für sie.«
Nein. Tavi spürte, wie er den Kopf schüttelte. Die Liste drängte sich wieder nach vorn. Das war zu viel. Viel zu viel, viel zu viel. In den vergangenen zwei Tagen hatte er zu wenig geschlafen. Er hatte schon diese große und vermutlich kaum lösbare Zwangslage vom Ersten … von seinem Großvater aufgetragen bekommen. Das Leben tausender Männer lag in seinen Händen. Wenn er wirklich der Sohn und Erbe des Princeps war, würde er irgendwann die Verantwortung für Millionen Menschen tragen. Und nicht nur das, er hatte
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