Der Puls von Jandur
Mit einem Mal war er nicht mehr so überzeugt davon, dass es sich dabei um blanken Unsinn handelte. Inzwischen war er nass bis auf die Haut, die Tropfen hingen an seinen Wimpern und wenn er sie wegblinzelte, rannen neue nach.
Er guckte über die Schulter. Am Waldrand drängten sich unzählige rote Leiber aneinander: Barcas. Noch mehr Pfeile kamen geflogen, der Angriff der Soldaten konzentrierte sich nun auf Lith. Hoffentlich waren sie bald außer Reichweite.
»Schneller!«, schrie er wieder und wirklich holten sie auf.
Über der Sandbank lagen sie Kopf an Kopf, bis Liths Schlangenläufer nach unten absackte. Hektisch schlug er mit den Flügeln, fing sich wieder, blieb aber deutlich zurück.
»Was ist los?«, brüllte Matteo. Das war doch nicht möglich! War er in das Echsenhirn vorgedrungen?
Ratlos schüttelte Lith den Kopf.
Vor ihnen pfiff ein Blitz ins Wasser und hinterließ eine Fontäne.
Wieder wandte sich Matteo nach den Angreifern um und atmete auf, als er bemerkte, dass sie nicht länger unter Beschuss standen. Dann sah er den Pfeil. Er steckte in der Brust von Liths Echse, dicht am Vorderbein, dort, wo die Haut weich und durchlässig war. Blut sprudelte heraus, perlte in roten Fäden nach unten. Das war schlecht, ganz schlecht. Um genau zu sein, absolute Scheiße.
»Er ist getroffen!«, schrie er Lith zu.
»Was?«
»Dein Schlangenläufer – ein Pfeil!«
Sie lehnte sich vor, suchte nach der Wunde, zog fragend die Schultern hoch.
»An der Brust!«
Lith nickte. »Wir müssen über die Flüsse! Auf den Sandbänken können wir bei dem Regen nicht landen! Zu unsicher …!« Matteo hörte noch was von »Überflutung«, der Rest ging im Tosen der Elemente unter.
Sie flogen mitten durch das Zentrum des Unwetters. Krachender Donner brach durch das Heulen des Sturms. Ohne Unterlass fegten Blitze vom Himmel und die Panik überrollte Matteo. Was waren schon ein paar Pfeile gegen einen Blitzschlag?
Er hatte sich nie groß vor Gewittern gefürchtet, aber wenn man zu Hause im Trockenen und im Schutz seiner vier Wände saß, hatte man leicht reden. Hier im Freien, klitschnass und nur wenige Meter über dem Wasser, waren sie regelrechte Empfangsantennen für die Blitze.
Und Liths Schlangenläufer sank, gebeutelt vom Sturm.
Fieberhaft überlegte Matteo, woran es wohl lag, dass seine Echse die Führung übernommen hatte und beharrlich voranzog, als würde jemand über sie gebieten. Wer? Lith? Konnte sie das Tier erreichen? Oder handelte es von allein?
Sie waren über dem vierten Flusslauf, als Matteo Lith kreischen hörte. Er fuhr herum. Die Echse war am Ende ihrer Kräfte, ihr Schwanz durchschnitt bereits die Wellen, sie paddelte mit den Klauen. Lith kauerte mit angezogenen Beinen auf ihrem Rücken, um nur ja nicht mit dem Flusswasser in Berührung zu kommen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Schlangenläufer unterging. Und sie mit ihm.
Die Traurigkeit zieht dich in die Tiefe .
»Matteo! Matteo … Matt…!« Der Wind riss ihre Stimme davon.
Was jetzt? Wie konnte er ihr helfen …? Er musste umkehren, sie auf seinen Schlangenläufer holen, aber wie? Wie?
»Lith!«, brüllte er. »Was soll ich tun?«
»Matteo! Hol mich ab!«
Matteos Blick jagte hin und her, nach unten, wo zwischen den Flussläufen die nächste Sandbank auftauchte, nach vorn in die silbergraue Regenwand, dann wieder zurück.
Liths Schlangenläufer kam nicht mehr vom Fleck, allein sein heftiges Geflatter hielt ihn noch über Wasser. Sie klammerte sich mit beiden Händen fest, wurde aber wie eine Puppe hin und her geworfen. Kleiner und kleiner wurden die beiden, mit jedem Flügelschlag entfernte sich Matteo weiter von ihnen.
Ein paarmal hörte er sie noch nach ihm rufen. Dann sang nur mehr der Sturm in seinen Ohren.
»Zurück!« Mit aller Kraft boxte Matteo dem Schlangenläufer in den Nacken. »Umdrehen! Shit, verdammt! Dreh um!«
Nichts. Unbeirrt zog das Vieh voran.
Er zerrte an den Flügeln, lehnte sich abwechselnd nach links und rechts, hämmerte ihm die Stiefelabsätze in die Flanken, schlug zu, schimpfte und fluchte. Ohne Erfolg.
Du musst es wollen .
Er wollte ja. Nichts auf der Welt wollte er in diesem Augenblick mehr als Lith retten. Sie würde ertrinken, auch ohne den Traurigkeits-Quatsch.
Sie würde sterben.
Wie Jakob.
Die Hilflosigkeit krampfte seinen Brustkorb zusammen. So sehr, dass es schmerzte.
»Bitte!«, flehte er. »Nicht noch mal. Bitte …« Er hatte Jakob verloren, hatte zusehen müssen, wie er
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