Der Puppendoktor
er den Raum in Augenschein und pfiff dabei »Mon beau sapin«, was bei ihm immer ein Zeichen von größter Gereiztheit war.
Marcel stand stillschweigend dabei. Er dachte, dass seine Schuhe jetzt endgültig im Eimer waren. Ein Paar Dienstschuhe, das machte 250 Franc. Wirklich ein guter Tag!
Der Dicke lag auf der Plastikplane wie ein gestrandeter SeeElefant. Der kleine Mann zog träumerisch an seiner Nadel. Dies war sein Meisterwerk. Eine dicke Fliege summte um ihn herum. Er zerquetschte sie mit einer blitzschnellen Bewegung und leckte sich gierig die Hand. Er liebte den süßlichen Geschmack der Fliegen.
Viele Naturvölker essen Insekten, sie sind voller Vitamine.
Unsere ganze Lebensmittelhygiene ist neu zu überdenken. In Dracula wird der Typ, der Insekten isst, wie ein armseliger Idiot dargestellt. Welche Fortschrittsfeindlichkeit! Immer müssen Schriftsteller kritisieren, was sie nicht verstehen. Als würde die Welt, um existieren zu können, auf ihre Meinung warten. Die Insekten sind viel älter als wir, sie haben alles überlebt. Wenn man eines von ihnen isst, nimmt man gleichzeitig Millionen und Abermillionen fahre von der Energie der Erde in sich auf. Ein saftiger Wurm, das ist, als würde man feuchtes Gras einatmen. Kakerlaken schmecken bitterer, aber es ist mehr dran. Die Fliege, sie ist das kleine Extra wie das Stück Schokolade zum Kaffee.
Schweiß tropfte von seiner Stirn auf den weißen Bauch des Toten, zerfloss in der feuchten gelockten Behaarung, die von der Leiste bis zur Brust verlief.
Der Körper verströmte den zugleich süßlichen und widerlichen Geruch der Toten. Er nahm ihn wahr, aber er störte ihn nicht. Im Gegenteil. Er kannte ihn gut. Ein vertrauter Geruch.
Draußen fing es an zu regnen. Es wurde plötzlich dunkel im Raum. Ein Sommergewitter. Heftig. Ein Wolkenbruch im Zucken der Blitze. Beim ersten Donnerschlag riss der kleine Mann den Kopf herum. Als der Regen eingesetzt hatte, hatte sein Gesicht einen panischen Ausdruck angenommen.
Er ließ die Nadel los, begann zu zittern und zu stöhnen und warf sich unter den Tisch, der Kopf zwischen den Armen, der ganze Körper von Krämpfen geschüttelt.
Das Gewitter wurde immer heftiger. Der kleine Mann kauerte unter dem Tisch, die Augen geschlossen, die Hände auf die Ohren gepresst, und der von Panik verzerrte Mund formte immer wieder stumm das Wort »Maman«. Dann, innerhalb weniger Minuten ließ das Gewitter nach. Auch er selbst beruhigte sich. Atmete langsamer. Öffnete die Augen. Die riesigen Pupillen waren zwei schwarze leere Löcher. Ein Blutrinnsal tropfte von seiner unterbrochenen Arbeit auf die roten Fliesen, nervtötend wie ein schlecht zugedrehter Wasserhahn.
Er richtete sich auf, ohne sich zu erinnern, dass er sich zusammengekauert hatte.
Selbst in der Laube war es heiß. Eine schwammige, klebrige Hitze. Marcel schwitzte. Er sah, ohne sie zu sehen, wie Familien - die Luftmatratze unterm Arm, die Schirmmütze auf dem Kopf - die Straße hinunterzogen. Oft trafen sich Marcel, Madeleine und die Kinder sonntags bei Caro und Jacky mit den Freunden. Es war angenehm bei Jacky, wegen des Gartens. Jacky, Paulo, Jean-Mi und Ben kannten sich, weil sie alle auf dem großen Platz arbeiteten. Jacky hatte einen winzigen Laden mit Postkarten, Paulo und Ben waren in der Werkstatt angestellt, und Jean-Mi kellnerte im Cafe Tabac. Seitdem sich Marcel beim Sport mit ihnen angefreundet hatte, lud man sich gegenseitig ein: Grillfeste, Kino, Silvester, Angelpartien … eine Vielzahl friedlicher und familiärer Freizeitbeschäftigungen.
Paulo schenkte sich eben ein weiteres Bier ein. Madeleine und Caro, die Frau von Jacky, ermahnten die Kinder, ihre Lammkoteletts aufzuessen. »Schmeckt wie Hammel!«, rief Kevin, Caros Ältester. »Hab keinen Hunger mehr!«, plärrte Frank. »Schluss mit dem Zirkus! Bei den Fleischpreisen heutzutage wird hier alles schön aufgegessen!« Mado brüllte natürlich wie immer am lautesten. Marcel fragte sich, was er mit einer Frau wie ihr, die mit dem südlichen Akzent einer Fischverkäuferin sprach, wohl in Paris angefangen hätte, wäre er dorthin versetzt worden. Lieber nicht dran denken! Elsa, die Freundin von Jean-Mi, rief ihren Hund, eine schwarz-weiße Promenadenmischung, doch der war viel zu sehr damit beschäftigt, das tiefste Loch der Welt zu buddeln. Caro servierte den Kaffee. Ben fing an, mit dem Fußball vor den Jungen zu dribbeln, die ihn nur auslachten. Jean-Mi kam von der Toilette zurück und zog seine
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