Der Puppendoktor
Sie den Mund! Ihr Privatleben geht mich nichts an, aber ich gebe Ihnen einen Rat: Nehmen Sie sich in Acht.«
»Ich tu meine Arbeit, Capitaine. Der Rest ist meine Sache.«
»Und ich, ich kann Ihnen sagen, dass Sie eine böse Überraschung erleben werden. Ihre Araberin, Ihre reizende Familienmutter, Ihre Vier-Sterne-Witwe, ist eine Nutte.«
»Wie bitte?«
»Sie haben mich ganz richtig verstanden. Und jetzt können Sie gehen«, hatte Jeanneaux ihn abgefertigt und ihm zwei maschinegeschriebene Blätter ausgehändigt.
Marcel hatte gegrüßt und das Büro verlassen. Die Ohren brannten ihm vor Wut. Dieser Jeanneaux glaubte wohl, er könne sich alles erlauben. Im dunklen Treppenhaus hatte er einen Blick auf die Papiere geworfen. Zwei Protokolle von zwei Verhören. Das Erste von einem gewissen Karime Abdache, Lebensmittelhändler. Die Worte sprangen ihm ungeordnet in die Augen. Hinterzimmer, Nadja Allaoui. Er zwang sich, ruhig zu atmen, und las bis ans Ende der zweiten Seite. Abdache hatte vorübergehend Nadjas Dienste im Hinterzimmer seines Ladens angeboten. Das war einige Monate nach dem Tod ihres Mannes gewesen, der sie ohne einen Sou zurückgelassen hatte. Er war gestorben, bevor die Situation geregelt war. Abgeschlossene Sache, offenbar kein Rückfall, so die Notiz, die Rudy la Fouine an das zweite Blatt geheftet hatte.
Nichts Dramatisches, hatte sich Marcel gesagt und mehrmals tief durchgeatmet. Ein paar schlecht honorierte Ausrutscher. Das war keine Berufung, vielmehr der Beitrag einer mittellosen Frau zum Unterhalt. Er wusste, dass die Nadja, die er vor sich gehabt hatte, die wahre Nadja war, versicherte er sich, indem er eine grässliche Grimasse im Spiegel schnitt. Die Sonne prallte auf die abblätternde grüne Farbe und störte eine Spinne, die in eine Toilettenkabine verschwand. Er trocknete sich das Gesicht mit seinem blauen Hemdsärmel ab. Gut, jetzt musste er wieder an die Arbeit.
Er ging die Treppe hinauf, durchquerte die Bar, traf auf Jean-Mi, der schweißgebadet schäumendes Bier servierte. Marcel war nur für zwei Sekunden pinkeln gegangen; er hatte bis achtzehn Uhr Dienst.
Draußen war es heiß wie immer. Marcel postierte sich wohlweislich unter einer Palme. Er dachte an seinen letzten Streit mit Madeleine zurück. Eine Gestalt zu seiner Linken zog seinen Blick an. Es war Nadja, die auf der anderen Straßenseite den Bürgersteig entlangkam, ohne ihn anzusehen. Momo drehte sich nach Marcel um, ließ die Hand seiner Mutter los und rannte über die Straße zu ihm.
»Momo! Was machst du denn da?«, rief Nadja.
»Guten Tag, Monsieur le Policier!«
»Hallo, Momo … kommst du von der Schule?«, fragte Marcel verdattert.
»Ich hab keine Schule, es sind Ferien. Weißt du das etwa nicht?«
Nadja hatte die Straße überquert, um ihn zurückzuholen.
»Entschuldigen Sie, er belästigt Sie .«
Plötzlich klammerte sich der Junge an Marcels Beine und vergrub den Kopf in seiner Hose. Marcel fasste ihn unters Kinn und hob seinen Kopf hoch.
»Was ist denn?«
»Dahinten, da ist er, dahinten!«
Marcel sah sich nach allen Seiten um.
»Wo? Wo?«
»Da, auf dem Motorrad!«
Die Ampel war auf Grün umgesprungen. An der Straßenecke hörte man ein Moped knattern. Marcel rannte los wie ein Verrückter: vergebliche Liebesmüh. Die Leute sahen ihm verwundert nach. Er kam zu Nadja zurück. Die Leute stießen sich mit den Ellenbogen an. Jean-Mi auf der Cafe-Terrasse schüttelte vorwurfsvoll den Kopf: Dieser Marcel hatte zurzeit nicht alle Tassen im Schrank.
Ramirez war außer Atem. Er war die drei Stockwerke zu Alfreds Refugium hochgestiegen.
»Drei Etagen hochsteigen, bei dieser Affenhitze, das bringt mich um.«
Alfred sah ihn spöttisch an:
»Hoffentlich bist du nicht jedes Mal in diesem Zustand, wenn du was besteigst .«
Ramirez strich sein graues, im Nacken zu langes Haar mit der flachen Hand glatt.
»Sei nicht so arrogant, Schönheit. Also, was gibt's Neues?«
»Steht alles da drin.«
Alfred reichte ihm die Akte, die in einer Plastikhülle steckte.
»Kannst du überhaupt lesen?«
»Keine Sorge, es ist nicht für mich, es ist für Jeanneaux.«
»Na, dann bin ich ja beruhigt.«
Der kleine Mann hatte seinen Lieblingsplatz eingenommen und lag ausgestreckt auf dem Sofa. Er sah die Nachrichten im Fernsehen. Erdbeben in Kurdistan. Tausende von Verschütteten. Die Rettungsmannschaften wühlten in den Trümmern, förderten erdrückte, zerfetzte Körper zu Tage. Irgendwo unter dem Schutt war eine Frau, man
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