Der Puppendoktor
wissen nicht mal, ob es überhaupt jemanden gibt.«
Marcel wollte nicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, bei Momos Angreifer und dem, den er im Stillen den Puppendoktor nannte, könne es sich um ein und dieselbe Person handeln.
Plötzlich tauchte Momo völlig verschlafen auf. Er weinte. Nadja nahm ihn in die Arme.
»Es ist alles gut, mein Liebling.«
An Marcel gewandt erklärte sie:
»Jetzt weint er häufig und hat Albträume . So, komm, es ist vorbei .«
»Ich will nicht gefressen werden .«
»Niemand wird dich fressen, du bist ein großer Junge. Komm, sag dem Polizisten guten Tag.«
»Nein. Warum ist er hier? Ich will nicht, dass er hier wohnt.«
Marcel räusperte sich. Nadja zuckte die Schultern.
»Er wohnt nicht hier. Er ist nur gekommen, um dich zu besuchen.«
»Genau, hallo Momo!«, sagte Marcel. »Du hattest also den Mann, der dich von der Schule abgeholt hat, schon vorher gesehen?«
»Nein!«
Marcel erhob sich seufzend. Knack! Das waren die Knie! Er hatte den flüchtigen Eindruck, dass der Alte höhnisch grinste. Nadja streichelte Momo, der mit halb geschlossenen Augen gähnte, die Wange.
Marcel fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Auf dem Balkon zirpte eine Zikade. Es roch nach Minze und Zimt.
»Na gut, ich glaube, ich sollte gehen.«
»Ich habe Sie umsonst kommen lassen, es tut mir Leid, aber vorhin hat er gesagt . ich bin wohl überempfindlich .«
»Das macht nichts. Also, ciao Momo, schlaf gut. Auf Wiedersehen, Monsieur.«
Momo zog Marcel am Hosenbein.
»Hast du auch ein Motorrad?«
»Warum, wer hat denn noch ein Motorrad?«
»Der Wolf, er war auf seinem Motorrad unten vor dem Haus.«
Marcel war mit einem Schlag wieder hellwach.
»Wie war denn sein Motorrad?«
»Alt. Hässlich.«
»Und welche Farbe hatte sein Helm?«
»Er hatte keinen Helm, er hatte eine Schirmmütze.«
»Hatte er braune oder blaue Augen?«
»Weiß nicht. Braun?«
»Hatte er einen Motorradoverall an?«
»Bist du verrückt? Doch nicht für ein so kleines Motorrad! Er hatte etwas Blaues an, wie Papa …« Marcel sah Nadja an. »Er meint einen Blaumann.«
Marcel frohlockte. Vielleicht war es ganz einfach ein Bauarbeiter!
»Und wie groß war er? Größer als ich?«
»Nein, wie Opa .«
Marcel sah den Großvater an, der ungefähr einen Meter sechzig groß sein musste. Marcel spürte schon Jean-Jeans dankbaren Händedruck.
»An was erinnerst du dich noch?«
»Ich weiß nicht.«
»Trug er Schmuck?«
»Er war doch kein Mädchen!«
»Ich weiß, aber ein Armband, eine Uhr, eine Kette .« »Eine Kette mit einem Anhänger und einem Freund von Jesus drauf.«
»Einem Freund von Jesus?«
Nadja griff ein:
»Er meint eine religiöse Figur.«
»Vielleicht ein Heiliger?«
Momo zuckte die Schultern.
»Hast du auch ein Motorrad?«
»Nein, ich habe kein Motorrad«, antwortete Marcel, »aber ich habe ein Auto. Wenn du willst, fahre ich mal mit dir spazieren.«
»Mit Mama?«
»Ja natürlich.«
Nadja hüstelte. Der Alte sah sie misstrauisch an. Eine Fliege summte. Er zerquetschte sie mit einem Schlag. Marcel zuckte zusammen und widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Kind.
Ohne Vorwarnung schloss Momo die Augen und sank auf das Sofa.
»Er ist eingeschlafen«, erklärte Nadja.
Marcel öffnete die Tür.
»Na, dann gehe ich mal. Ich halte Sie auf dem Laufenden. Aber machen Sie sich keine Sorgen, jetzt werden wir ihn schnell finden …«
Nadja lächelte - ein unsicheres Lächeln. Sie beugte sich zu ihm vor, um das Licht auf dem Hausflur anzuschalten. Er spürte, wie ihre nackte Schulter ihn streifte .
»Was die Spazierfahrt im Auto angeht, wenn Sie Lust haben .«
»Sie haben sicher viel Arbeit .«
Sie flüsterten auf dem Hausflur und sahen sich dabei in die Augen.
»Ich kann mir frei nehmen. Wir könnten ein Picknick machen .«
»Ich weiß nicht.«
»Das scheint ja eine Familienkrankheit zu sein!«
Nadja lächelte. Diesmal war es ein richtiges Lächeln. Mit einer freundschaftlichen und tröstenden Geste drückte Marcel kurz ihre Schulter. Festes, zartes Fleisch.
»Na ja, darüber können wir ja noch reden. Schlafen Sie gut.«
Er schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinab. Als er unten war, hob er den Kopf. Die Tür war geschlossen. Er trat auf die Straße. Ein leises Geräusch über ihm. Er drehte sich um. Nadja hängte auf dem Balkon Wäsche auf. Sie sah ihn an. Er lächelte. Sie lächelte. Marcel fühlte sich unbeholfen. Er winkte ihr kurz zu, stieg, rot vor Verwirrung, in seinen Wagen und ließ den
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