Der Puppenfänger (German Edition)
seinen Blick gebannt dorthin, wo sich hinter einer Nische die Eingangstür befand.
Zwei schemenhafte Gestalten traten fast geräuschlos ein und ließen den Schein ihrer Taschenlampe suchend durch den Raum wandern. Noch ehe Schöllen den Lichtschein auf seinem Gesicht spürte, ahnte er enttäuscht, dass der Auftraggeber dieser unsäglichen Entführung erneut Lakaien geschickt hatte, um ihn weichzuklopfen. Doch eines war gewiss: Ein Gerald Schöllen ließ sich nicht von zwei Zwergen veräppeln und verhandelte nicht mit Fuzzis aus der zweiten Riege. Sicherlich zog das Würstchen, das jetzt mit einer Pistole in der Hand breitbeinig vor ihm stand, nicht an den Drähten der Macht und traf keine lebenswichtigen Entscheidungen.
Bei den beiden vergangenen Besuchen waren seine Peiniger stumm geblieben. Jetzt begann einer von ihnen mit einer krächzenden, verstellten Stimme zu sprechen. Er redete davon, dass Schöllen nun die andere Seite der Medaille kennengelernt habe und endlich auf der Seite der Schwächeren stehe. Gefesselt und an einem Holzpfosten festgezurrt, sei er nicht länger in der Lage, mit seinen Muskeln zu spielen und seinen durchtrainierten Körper einzusetzen, um Macht auszuüben. Niemals wieder würde er einem Mitmenschen Schaden zufügen.
Schöllen ballte seine gebundenen Hände zu Fäusten, sammelte alle Kräfte, die er besaß, spielte den Uninteressierten und ließ das überflüssige Gerede scheinbar gleichmütig über sich ergehen. Doch in dem Augenblick, in dem der Lichtkegel sich von seinem Körper löste, gab er nach. Er begann zu weinen, obwohl er es nicht wollte. Als eine Deckenlampe, die den Raum lediglich notdürftig ausleuchtete, eingeschaltet wurde, schloss er die Augen und wischte verstohlen über sein Gesicht. Seine Tränen sollten sie nicht sehen. Kleine Kinder plärrten! Rotzlöffel! Er war Schöllen, der sich von niemandem etwas sagen ließ und der seit Jahrzehnten nicht geheult hatte.
Die Gestalt kam näher, hielt erneut die Pistole auf ihn gerichtet, bückte sich, griff überraschend flink nach der leeren Wasserflasche, warf sie fort und stieß mit ihrem Fuß hart in Schöllens Rippen. Schöllen hustete, rang nach Luft, hörte ein erbärmliches Stöhnen, das bis in seinen Kopf dröhnte, und presste die Lippen aufeinander, als er begriff, dass er es war, der diese abstoßenden Töne von sich gab. Keinen Laut, beschloss er. Du sprichst nicht. Du hast stundenlang nach Hilfe gebrüllt, du hast geschrien, bis deine Stimme versagte. Keiner hat dich gehört. Du hockst in einer elenden Hütte, abseits jeder Zivilisation in Gott-weiß-wo. Du wirst ihre Forderungen erfüllen, und zwar zügig. Willst du überleben, Gerald Schöllen? Ja, das willst du! Dann richte dich nach den Anweisungen dieser Geisteskranken und halt die Klappe.
Als er erneut den Fuß an seinen Rippen fühlte, öffnete er die Augen, legte den Kopf in den Nacken und sah im Licht der armseligen Funzel die Sohle eines grünen Gummistiefels, die mehrere Sekunden über seinem Gesicht schwebte und ihm den Angstschweiß auf seine Stirn trieb. Sein Herz raste, ihm wurde schlecht. Er musste sich zusammenreißen, gleichmäßig ein- und ausatmen. Nur nicht ohnmächtig werden. Er konnte es sich nicht leisten, wieder das Bewusstsein zu verlieren. Er musste sie um etwas zu trinken bitten. Wenn er es nicht schaffte, ihnen Wasser abzutrotzen, würde er sterben.
D ONNERSTAG, DEN 14. A PRIL 2011
Wenn Heide und Dieter in einem Zimmer schliefen, standen sie morgens fast gleichzeitig auf. Im Laufe der letzten vier Jahre hatten sie sich angewöhnt, demjenigen das Bad zuerst zu überlassen, der in der Wohnung zu Besuch war. Während der Gast sich unbeschwert unter der Dusche tummelte, bereitete der andere das Frühstück zu. Nach dem übertriebenen, völlig unnötigen Zwergenaufstand ihres blonden Riesen hatte Heide sich allerdings fest vorgenommen, heute gegen das morgendliche Ritual zu verstoßen. Sie würde jedes Geräusch, das ihr streitsüchtiger Wohnzimmerschläfer verursachte, ignorieren. Sollte er es trotzdem wagen, sie anzusprechen, wollte sie sich schlafend stellen.
Heide, die sich gewöhnlich nicht so leicht aus dem Schlaf reißen ließ, wachte an diesem Morgen bereits auf, als ein leises Knacken der Holzdielen hinter der Tür verriet, dass Dieter jeden Augenblick das Schlafzimmer betreten würde. Sie atmete ruhig und gleichmäßig weiter, blieb bewegungslos liegen und blinzelte durch halb geschlossene Lider. Im spärlichen
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