Der Puppenfänger (German Edition)
Esszimmer hatte seither die Funktion eines Besprechungsraumes übernommen, und ihre Staffelei stand jetzt auf einem alten Teppich vor der Balkontür in der geräumigen Küche. Was eigentlich recht praktisch war, da der Fliesenboden sich gut reinigen ließ. So konnte sie unbesorgt großzügig mit ihren Acrylfarben umgehen und danach Farbspritzer rund um den Schutzteppich mit Aceton entfernen.
Verdammt! Sie wollte endlich zur Ruhe kommen und nicht mehr über olle Kamellen lamentieren! Verzweifelt drehte sie sich auf den Rücken, zog Dieters Kissen über den Kopf und begann, Schäfchen zu zählen. »Ein Schäf-chen springt ü-ber den Zaun. Zwei Schäf-chen sprin-gen über den …«, murmelte sie rhythmisch und klopfte dabei im Takt der Silben ungeduldig mit ihren Fersen auf die Matratze. Ehe sie bis zehn gezählt hatte, gab sie resignierend auf und ließ die Gedanken erneut fließen.
Einige Tage nach der Trennung von Alexander war sie fast sicher gewesen, niemals wieder festen Boden unter den Füßen zu fühlen. Doch nach einer kurzen Zeit der Trauer hatte sie beschlossen, ihren Körper in Hochform zu bringen, damit auch ihre Seele heilen konnte und sie ihr psychisches Gleichgewicht wiederfand. Sie hatte sich zur Wassergymnastik angemeldet und war jeden Morgen durch den Osnabrücker Schlosspark gejoggt. An manchen Tagen hatte sie mehr Stunden im Fitnessstudio als in ihrer Detektei verbracht und sich abends mit ihrer alten Liebe Dieter getroffen, den sie bereits seit Schulzeiten kannte und von dem sie sich wegen Alexander getrennt hatte. Sachte, aber stetig war das winzige Flämmchen der Leidenschaft, das immer verstohlen in ihrem Herzen für den Kommissar geglüht hatte, gewachsen, war aufgelodert und dann – rums! Seither widersprach sie sofort, wenn irgendjemand behauptete, Aufgewärmtes schmecke nicht und sei nicht bekömmlich. Sie genoss jeden Bissen und wies trotzdem – oder gerade deswegen – in schöner Regelmäßigkeit Dieters Heiratsanträge zurück.
Die Kilos, die sie sich während ihrer Unglückszeit abtrainiert hatte, waren im Laufe der Jahre allmählich zurückgekommen. Bei einer Größe von einem Meter und sechsundsiebzig und einem Gewicht von sechsundsiebzig Kilo war sie ganz unbestreitbar zu schwer. Im nächsten Jahr würde sie ihren vierzigsten Geburtstag feiern. Vielleicht konnte sie bis dahin –? Zehn Pfund oder etwas mehr –? Irgendwann hatte sie gelesen, dass Verheiratete eher zum Übergewicht neigten als – egal! Sie war nicht verheiratet und würde es – wenn es nach ihr ging – auch nicht so bald sein, aber sie würde gerne abnehmen. Mindestens drei Kilo, vielleicht auch etwas mehr. Seufzend warf sie Dieters Kopfkissen zurück und schaltete das Licht ein, schob die Bettdecke beiseite, griff nach einem Haarband und fasste ihre brünetten, schulterlangen Haare im Nacken zu einem Knoten zusammen.
Ihre Füße waren eiskalt. Oma Lydias Winterarbeit, ein Paar blau-weiß gestreifte Stricksocken, lag griffbereit auf dem Nachttisch. Sie streifte sie über, stand auf und marschierte in die Küche. Dort warf sie einen Blick auf die Staffelei und musterte ihre jüngste Arbeit, eine Collage mit sehr dünnem Weißblech auf mehrschichtigem Farbuntergrund. Im Großen und Ganzen war sie damit zufrieden. Celia, die Freundin ihres Vaters, würde sich über das Geburtstagsgeschenk freuen. Heide schaltete eine Kochplatte an, nahm eine Tüte Milch aus dem Kühlschrank, goss die Flüssigkeit in einen Henkeltopf und schob ihn auf den Herd. Sie würde sich bloß einige winzige Schlückchen davon gönnen, den geliebten Honig im Schrank stehen lassen und die verführerische Kakaodose – die ihr ohne Unterlass vom Bord oberhalb der Essbar zuzwinkerte – ignorieren.
Alexander und sie hatten sehr selten miteinander gestritten, überlegte sie, als sie den Topf von der Platte nahm und die Milch in einen Becher goss. Nie war sie auf einen Menschen getroffen, der verantwortungsvoller, vernünftiger und besonnener auf sie gewirkt hatte als er. Und keiner hatte sie so sehr enttäuscht.
Sie setzte sich an den Küchentisch, legte ihre Füße auf einen Stuhl, trank die kochend heiße Milch in kleinen Schlückchen und betrachtete die Fotowand ihrer Lieben vor sich. Genau wie sie in diesem Moment hatte Alexander sich in den Monaten vor ihrer Trennung häufig die Bilder ihrer Nichten und Neffen angesehen, hatte die Babyfotos von den Haken genommen und sie minutenlang angestarrt. Er hatte immer von eigenen Kindern
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