Der Puppengräber
Wildnis, die einmal Gerta Frankens Garten gewesen war.
Trude sah nur noch seinen Kopf über das Gesträuch ragen. Er steuerte auf den Birnbaum zu. Es war ein Fehler, ihm das Eis sofort zu geben, dachte Trude. «Nein, nein», rief sie, presste beide Hände auf die stechende Brust. «Komm wieder her, du sollst nicht in den Baum steigen.» Sie griff in die Kitteltasche, hielt einen mit Haselnüssen gefüllten Schokoladenriegel hoch, damit er zurück auf den Weg kam.
«Gehen wir zum Bruch», sagte sie. «Du zeigst mir, wo du heute Morgen warst, wo du immer die feinen Sachen findest.»
Er aß erst einmal, dann lief er wieder vor ihr her den gesamten Weg zurück zum Hof und daran vorbei. Mehr als zwei Kilometer. Trude war mit ihrer Kraft fast am Ende. Immer wieder musste sie stehen bleiben und nach Atem ringen. Er blieb ebenfalls stehen und wartete, bis sie wieder neben ihm war.
Nach mehr als einer Stunde erreichten sie die Kante zum Bruch. Er schaute sich erwartungsvoll nach ihr um. Sie kam langsam und schleppend die letzten Meter, bliebauf der Kante stehen, während er in die Senke hinunterstieg.
Trude rang nach Luft und drängte: «Wo hast du es vergraben?» Damit er auch wirklich verstand, was er ihr zeigen sollte, fügte sie mit leichtem Stocken hinzu: «Wo ist das … Rabenaas? Es war doch im Rucksack. Wo hast du es hingelegt?»
Er stand unten, etwa fünfzehn Meter von ihr entfernt neben einem moosüberwachsenen Trümmerberg. Es schien, als wolle er einige Brocken herausziehen. Doch nach ihren Worten setzte er sich erneut in Bewegung und kam die Kante wieder herauf.
Dann lief er weiter auf dem schmalen Weg, der zum Lässler-Hof führte. Trude hetzte ihm nach und wusste nicht, woher sie die Luft für den nächsten Atemzug nehmen sollte. Sie sah Jakobs alten Mercedes vor Lässlers Haus stehen. Es war ein Moment von Aufgebenwollen. Bei Antonia ein wenig verschnaufen. Sich von Jakob heimfahren lassen. Und ihm erklären müssen, wo sie gewesen und was sie dort gesucht hatte? Sie lief weiter. «Nicht so schnell, Ben», keuchte sie. «Ich kann nicht mehr.»
Hundert Meter weiter, zweihundert Meter, er hielt sich jetzt neben ihr und musterte sie besorgt von der Seite. «Weh?», fragte er.
«Ja, ein bisschen.» Trude rieb mit der Hand über die Rippen, hinter denen es stach und brannte. «Es ist das Herz. Aber es geht schon. Ich kann nur nicht so schnell laufen wie du. Wie weit ist es denn noch? Wo bringst du mich hin?»
«Rabenaas», sagte er.
Trude musste stehen bleiben, weil das Herz in dem Moment für einen Schlag aussetzte. Sie kniff die Augen zusammen, als der Schwindel das Hirn erfasste und eineHandtasche, zwei abgetrennte Finger, ein neongelbes Unterhöschen und den blutgetränkten Rucksack darin herumwirbelte. Hinter den Rippen polterte es wieder los, der Kopf füllte sich mit Rauschen und Brausen, als wüte ein Sturm darin.
Rabenaas! Noch vierhundert Meter bis zum Mais. Er lief weiter, sie folgte ihm wie mit Bleigewichten an den Füßen, den Kopf voll mit diesem widerlichen Summen und Brausen. Als Jakobs Mercedes neben ihr hielt, zuckte sie zusammen wie unter einem Schlag. Sie hatte ihn nicht kommen hören.
Nachdem sie sich von dem Schreck erholt hatte, stieg sie ein, nur noch dankbar, nicht weiterlaufen und nicht sehen zu müssen, wozu sie ihn aufgefordert hatte, es ihr zu zeigen. Morgen, dachte sie, oder am Montag, wenn es mir bessergeht und Jakob bei der Arbeit ist, versuchen wir es nochmal.
Ben war auch mit gutem Zureden nicht zu bewegen, ins Auto zu steigen. Jakob fuhr langsam vor ihm her, vergewisserte sich im Innenspiegel, dass er folgte, und erkundigte sich, was Trude draußen gesucht habe.
«Ich dachte», sagte sie, «vielleicht zeigt er mir, wo er die Jacke gefunden hat.»
«Und», drängte Jakob. «Hat er es dir gezeigt?»
Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf, ehe sie antwortete: «Er hat überhaupt nicht verstanden, was er mir zeigen sollte.» Die Angst, dass er jetzt noch haltmachte und Jakob zum Nachschauen bewegte, tobte wie ein wildes Tier durch ihre Eingeweide.
Jakob schaute wieder kurz in den Rückspiegel, sah Ben in seinem gewohnten Trab dem Mercedes folgen und bog bei Lukkas Bungalow in den breiten Weg ein. Dabei erzählte er von seinem Versuch, etwas in Erfahrung zu bringen, und der Erfolglosigkeit. Als er erwähnte, dassdie gesamte Familie Lässler beim Kaffee gesessen hatte, hörte er Trude mühsam nach Atem ringen. «Was ist los?», fragte er.
Trude war sicher, dass
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