Der Puppengräber
er beim Vater bleiben müsse. Aber was Trude auch sagte, es wirkte nicht. Es war ein herzzerreißender Abschied, in dem er wohl zwanzigmal nach Trudes Handgelenk griff, mit beiden Händen daran zerrte, dass sie sich kaum im Wagen halten konnte. Er schüttelte den Kopf mit einer Miene, als stehe ihm der Weltuntergang bevor, murmelte Finger weg und weh.
Trude ließ ihn gewähren, strich ihm über das lockige Haar, drückte sich sein Gesicht gegen die Schulter, damit er ihre Tränen nicht sah, und flüsterte: «Ich hab nur ein bisschen weh. Aber ich komme bald zurück. Das habe ich dir doch versprochen. Es ist nur für ein paar Tage. Jetzt sei lieb.»
Jakob, dem der Halt des Taxis Gelegenheit gegeben hatte, Ben einzuholen, machte der Sache ein Ende. Mit ein paar energischen Worten brachte er Ben dazu, Trudes Arm loszulassen, dann hielt er ihn fest, bis der Wagen außer Sicht war. Ben trottete mit gesenktem Kopf neben ihm zurück und murmelte ein paarmal Rabenaas. «Daswill ich nicht mehr hören», sagte Jakob streng. «Mutter ist kein Rabenaas. Sie lässt dich nicht im Stich.»
Ben verkroch sich im Hühnerstall. Auch der Teller voll Rührei, mit dem Jakob ihn in die Küche lockte, half nicht viel. Er kam zwar mit, doch dann saß er am Tisch und schaufelte den gelben Berg mit trübsinniger Miene in sich hinein.
Jakob versorgte das Vieh, suchte aus Trudes Vorräten eine Tafel Nussschokolade und etliche Schokoladenriegel heraus, steckte sich alles in die Hosentasche und lockte Ben mit einem Vanilleeis ins Freie, um ihn ein wenig abzulenken.
Es war der erste gemeinsame Spaziergang, das Debüt sozusagen. Und es war das erste Mal, dass Jakob zu seinem Sohn sprach wie zu einem Menschen, der ihm selbst in nichts nachstand, der raten und helfen konnte. «Glaub nur nicht, dass du der Einzige bist, der sie vermisst und Angst um sie hat», begann er.
Und es war nur der bedrückte Ton, der Ben dazu brachte, an seiner Seite zu bleiben. War er ihm zuerst mit verzweifelter Miene gefolgt, drückte sein Gesicht bald eine gewisse Aufmerksamkeit aus. Hin und wieder nickte er und gab Jakob das Gefühl, dass er verstanden wurde, dass sein Sohn die Sorge um Trude ebenso empfand wie das unterschwellige Bewusstsein von Furcht. Wenn es nun doch etwas Schlimmes war? Hatte es nicht bei Pauls Mutter genauso angefangen? Und die war daran gestorben. Was sollte dann werden aus ihm und aus Ben?
«Das Gerede hat Mutter krank gemacht», sagte Jakob. «Ich hätte nicht übel Lust, Thea das Maul mit dem Dreck zu stopfen, den sie verbreitet. Wir hätten den Spieß umdrehen sollen, Thea anzeigen wegen Verleumdung. Vielleicht tu ich’s noch. Da scheiß ich auf Richards Geld. Soarm bin ich auch nicht, dass ich mir keinen guten Anwalt leisten kann. Aber einen wirklich guten, nicht so einen Arschkriecher wie Lukka. Den kann Richard nehmen.»
«Freund», sagte Ben.
Jakob schüttelte energisch den Kopf. «Quatsch. Lukka ist eine linke Zecke. Er tut freundlich, und wenn man den Rücken gedreht hat, bückt er sich nach einem Stein. Er hat dir schon mehr als einen Stein in den Weg geworfen, und eines Tages wirst du drüber stolpern. Wenn ein Mensch gutmütig und harmlos ist, muss ich es nicht allen erzählen. Über Tatsachen muss man nicht reden. Wenn man es tut, und wenn man es so oft tut wie Lukka, fangen die Leute an zu zweifeln. Der kann mir nicht erzählen, dass er dich mag.»
Jakob war bei seinem Lieblingsthema, sprach kreuz und quer über die Demütigungen, die ihm als Vater von einem angeblich wohlmeinenden Bürger, in Wirklichkeit jedoch von einer linken Zecke zugefügt worden waren. Darüber kam er wieder auf Thea Kreßmann und deren Behauptung, Ben habe das behinderte Mädchen vom Lerchenweg verletzt.
«Ich meine», sagte Jakob, «es ist ein großer Unterschied, ob ich einer Puppe ein Loch in den Bauch steche oder einem Menschen, der zu bluten und zu schreien anfängt. Weißt du, was ich denke? Ich sollte das nicht sagen, aber hier hört uns ja keiner. Wenn dem Mädchen einer Gewalt angetan hätte, zusätzlich, meine ich, da käme so schnell keiner auf die Idee, du wärst es gewesen. Das würden sie dir nämlich nicht zutrauen. In deinem Alter fängt das ja gerade erst an.»
Jakob betrachtete Ben von der Seite. Gerade fünfzehn Jahre alt geworden und schon größer als er selbst. Die Schultern um einiges breiter, die Hände um einiges kräftiger. Aber das Gesicht, es war noch ein Kindergesichtmit weichen Konturen. Die Augen von langen,
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