Der Puppengräber
Nachmittag nicht unter Antonias Aufsicht auf dem Lässler-Hof gespielt. Antonia log das Blaue vom Himmel herunter und stiftete sowohl ihren Mann als auch ihren armen, herzkranken Sohn an, mit ihr um die Wette zu lügen.
Der Schützenverein vertrat unter Richard Kreßmanns Führung die Ansicht, es sei unter diesen zweifelhaften Umständen unmöglich, dass Jakob und Trude sich in der offenen Kutsche durchs Dorf fahren ließen, womöglich ihren Sohn in der Mitte. Ohne viel Aufhebens übernahm Richard das Amt, und Jakob trat aus dem Verein aus.
Es schien nur eine Frage der Zeit, bis Trude unter der Last ihrer Schuldgefühle zusammenbrach. Doch damit ließ sie sich Zeit. Als es endlich geschah, waren die Diskussionen, dass man nun mit zwei Mördern im Dorf lebte und Gerta Franken es immer prophezeit hatte, fast schon wieder verstummt. Kaum einer nahm noch Notiz davon, dass die wunde Seele sich ein Ventil gesucht hatte. Nicht einmal Trude sah noch einen Zusammenhang.
Sie war in dem Herbst einundfünfzig Jahre alt, doch funktionierte ihr Körper wie der einer Zwanzigjährigen – alle vier Wochen. Sie hatte es sich nie leisten können, um ihr Frausein viel Aufhebens zu machen. Es wäre ihr undenkbar gewesen, sich mit einem Migräneanfall ins Bett zu legen, wie Maria Jensen es tat. Sie hatte keine Zeit für Bauchkrämpfe, die Thea Kreßmann allmonatlich heimsuchten. Sie klagte nicht einmal über leichtes Unwohlsein wie Antonia und Renate Kleu. Was kam, das kam, und Trude brachte es hinter sich, ohne einen überflüssigen Gedanken daran zu verschwenden.
Doch im November 87 wollte es kein Ende nehmen. Die ersten Tage vergingen noch wie gewohnt. Die erste Woche verging, und kein Anzeichen des Nachlassens. Die zweite Woche brach an, allmählich spürte Trude eine gewisse Müdigkeit. Erst Anfang der dritten Woche hörte es auf. Und nach nur zwei Wochen ging es von neuem los, schlimmer als zuvor. Manchmal hatte es den Anschein, als wolle sie ausbluten und es auf diese Weise hinter sich bringen.
Bis in den Februar 88 plagte sie sich, machte sich Sorgen, weil die Kraft nachließ. Die Müdigkeit wollte nicht mehr weichen. Kaum aus dem Bett, hätte sie sich am liebsten wieder hineingelegt und nur noch geschlafen.
Es war bereits Ende Februar, als Trude sich auf eindringlichen Rat Antonias aufraffte und einen Termin beim Gynäkologen in Lohberg vereinbarte. Recht war es ihr nicht. «Ich kann mich nicht für drei oder vier Wochen ins Krankenhaus legen.»
So lange hatte die Sache bei Hilde Petzhold gedauert. Daran erinnerte Trude sich nur zu gut. Zuerst eine Ausschabung, dann ein paar Tage warten, bis der Befund kam, danach die schwere Operation. Anschließend hatte Otto gesagt: «Das wird nichts mehr» und den Hof aufgegeben.
«Jetzt mach dich nicht verrückt», sagte Antonia. «Vielleicht hat es nur etwas mit den Hormonen zu tun. Dann bekommst du ein paar Pillen, und die Sache gibt sich.»
Doch so einfach war es nicht. Das Krankenhaus musste sein, zwei Wochen, meinte der Arzt. Eine Woche höchstens, sagte Trude und überlegte mit Jakob, wie sie diese Woche hinter sich bringen könnten.
Irgendwie ginge es schon, meinte Jakob leichthin. Der Zeitpunkt sei ja günstig. Noch war der Boden gefroren, da konnte man draußen überhaupt nichts tun. Wenn es im Frühjahr passiert wäre, hätte es anders ausgesehen. Aber jetzt, dabei lachte Jakob, um ihr zu zeigen, dass es wirklich nicht so tragisch sei, komme er schon zurecht.
An einem Montag Ende Februar stieg Trude, den Mantel über dem Arm und das kleine Köfferchen in der Hand, in ein Taxi. Sie winkte noch einmal zu Ben hinüber. Er stand neben Jakob bei der Haustür, beäugte misstrauisch das Taxi und trat nervös auf der Stelle.Jakob hatte ihm einen Arm um die Schultern gelegt, um ihm zu zeigen, dass er nicht alleine blieb. Trude hatte ihm zuvor ausführlich erklärt, dass sie Weh habe und zum Doktor müsse für ein paar Tage. Aber bald sei sie wieder da. Und bis dahin bekäme er jeden Abend ein großes Eis vom Vater. Er müsse nur lieb sein und beim Vater bleiben.
Es schien, als habe er sie verstanden. Doch kaum rollte das Taxi vom Hof, schüttelte Ben Jakobs Arm ab und hetzte wie von einer Bremse gestochen hinter dem davonfahrenden Mercedes her. «Finger weg!», brüllte er. Jakob lief ihm nach, aber so schnell war er nicht.
Trude tippte dem Fahrer auf die Schulter und bat ihn, anzuhalten, damit sie sich noch einmal von ihrem Sohn verabschieden und ihm klarmachen konnte, dass
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