Der Puppengräber
den vor sich hin dämmernden Jungen in den Wagen zu tragen, und legte sich selbst für eine Stunde auf die Couch. Anschließend besuchte er Trude im Krankenhaus.
Mit ihrer Entlassung hatte es nun keine Eile mehr. Statt der beabsichtigten Woche blieb sie zehn Tage, erholte sich gut in dieser Zeit, trug Jakob täglich ihren Dank und liebe Grüße an Antonia und Paul auf. Als sie endlich heimkam, war auch Ben so weit auskuriert und Antonia überzeugter denn je, dass er mit Ursula Mohns Verletzungen nichts zu tun hatte und es richtig gewesen war, die Polizei von ihm fernzuhalten.
26. AUGUST 1995
Nachdem Jakob den Lässler-Hof verlassen hatte, kam es im Wohnzimmer seines Freundes zu einer Auseinandersetzung. Tanja Schlösser war mit ihren dreizehn Jahren nicht mehr klein und dumm. Sie hatte sehr wohl begriffen, dass man ihren Bruder einer furchtbaren Sache verdächtigte. Auch wenn niemand es offen aussprach.
Solange ihr Vater anwesend war, hatte sie gedacht, es sei dessen Aufgabe, für Ben einzutreten. Aber Jakob hatte nach seinem heftigen Widerspruch die Zähne nicht mehr auseinanderbekommen. Als er wie ein alter Mann aus dem Zimmer schlich, mit hängenden Schultern, denKopf so tief dazwischen gezogen, dass er einen halben Meter kleiner wirkte, sprang Tanja auf, wollte ihm nach, ihn schütteln und mit dem gesamten Gerechtigkeitssinn ihres Alters zur Rede stellen.
Antonia deutete den Gesichtsausdruck ihrer Ziehtochter richtig und hielt sie zurück. «Lass ihn jetzt in Ruhe, Kind. Es ist für deine Eltern nicht leicht. Das war es nie. Sie sollten Ben wirklich für eine Weile festhalten, wenigstens in der Nacht.»
«Aber er tut doch nichts», protestierte Tanja.
«Das weiß ich», sagte Antonia. «Das wissen viele, leider wissen es nicht alle.»
«Und was wisst ihr, was Papa nicht weiß?» Sie schaute Paul an. «Was war mit Ursula Mohn vor acht Jahren, die du gefunden hast?»
Paul schüttelte den Kopf und richtete den Blick auf seine Frau. «Ich hab dir mehr als einmal gesagt, es war ein Fehler.»
Antonia zuckte mit den Schultern. Vielleicht hatte Paul recht. Ob Ben mit seinen damals vierzehn Jahren für die Behörden als Täter in Betracht gekommen wäre oder ob sie sich nur an ihn gehalten hätten, weil sie keinen anderen fanden, ließ sich heute nicht mehr beantworten. Es war auch nicht mehr wichtig. Für einige Leute im Ort war er der Täter gewesen und bis heute geblieben, nur das zählte.
Ben war kein Bruno Kleu, der sich jede Verdächtigung unter Androhung einer Schlägerei verbat. Er war kein Richard Kreßmann, der zur Polizei lief oder einen Rechtsanwalt einschaltete, sobald ihm ein Gerücht zu Ohren kam. Ben war nicht einmal ein Toni von Burg, der lächelnd zur Kenntnis nahm, dass man ihn für schuldig befand am Tod des alten Wilhelm Ahlsen. Toni hatte dazu nur gesagt: «Hätte ich Zyankali gehabt, hätte ich es mitGenuss in Ahlsens Bier gekippt. Schade, dass ich nicht auf die Idee gekommen bin, mir welches zu besorgen.» Ben war nur Ben, konnte sich mit Worten nicht wehren.
Antonia hatte in der vergangenen Woche bei ihren Besuchen im Dorf mehr als eine Stimme gehört, die an den Fall Ursula Mohn erinnerte und die Ansicht vertrat, das behinderte Mädchen hätte trotz allem großes Glück gehabt, im Gegensatz zu Erichs Tochter.
Allmählich spaltete sich das Dorf in zwei Lager. Die eine Seite schaute auf Bruno Kleu, nicht auf seinen Sohn. Dieter war mit seinen knapp drei Jahren wohl noch zu jung gewesen, als Althea Belashi verschwand. Die andere Seite schaute auf Ben und Ursula Mohn. Erich und Maria Jensen gehörten dazu, das wusste Antonia, sie kannte sogar sämtliche Gründe.
Paul hatte vor acht Jahren den Fehler begangen, seiner Schwester gegenüber anzudeuten, dass die offizielle Version der Vorgänge im Bruch nicht die richtige war. Paul hatte es nur gut gemeint, wollte den Gerüchten Einhalt gebieten.
Maria hatte es natürlich Erich erzählt. Und Erich hatte gelacht. «Ben soll versucht haben, das Mädchen zu verbinden? Wer hat dir denn den Floh ins Ohr gesetzt? Deine Frau, vermute ich. Ihr seid doch alle nicht ganz bei Trost. Weißt du, was Ben getan hätte, wenn Andreas nicht gekommen wäre? Verbuddelt hätte er das arme Ding, er hatte doch schon angefangen. Der mit seiner verdammten Graberei!»
Wenn nicht bald ein Wunder geschah, wenn die Stimmen erst laut wurden … Erich würde am lautesten schreien. Er hatte nie verstanden, dass Jakob einerseits auf seinen Sohn eindrosch wie ein
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