Der Puppengräber
sein Vater erklären und reden, so viel er wollte.
Mitten in der Nacht hatte er es nicht mehr ausgehalten in seinem Bett und brach auf, nach seiner Mutter zu suchen an den Stellen, an denen sie seiner Erfahrung nach zu finden sein musste. Zuerst lief er zum Bruch. Dort war sie nicht. Dann lief er zur Apfelwiese, quälte sich schlotternd vor Kälte in seinem fadenscheinigen Schlafanzug unter dem Stacheldraht durch und kroch zu dem längst verschlossenen Pütz. Die Stelle sah nicht aus, als hätte man noch jemanden hineinwerfen können. Aber man konnte nie wissen. Sie taten häufig Dinge, die er nicht erwartet und für unmöglich gehalten hatte.
Für ihn waren wir die wunderlichen Wesen, die Zerstörer, deren Verhalten er nicht durchschaute und nicht verstand. Die ihn nicht verstehen wollten, da mochte er noch so deutlich sprechen mit den Worten, von denen er wusste, dass sie immer richtig waren.
Dass er sich an all den anderen Worten nicht versuchte, hatte viele Gründe. In den ersten Jahren unter der Fuchtel seiner Großmutter hatte sich niemand die Mühe gemacht, ihm vorzusprechen, dass der Tisch ein Tisch und das Bett ein Bett war. Und später, als er das alleine herausgefunden hatte, traute er den Worten nicht mehr. Es waren zu viele falsche dabei, zu viele, die er nicht einordnen konnte, und einige, bei denen er nicht wusste, zu wem sie nun wirklich gehörten. Wie hätte er seine Mutter Mama nennen können, wenn Albert Kreßmann mit diesem Wort nach Thea rief, Dieter Kleu nach Renate und es auf dem Lässler-Hof für Antonia galt?
Die halbe Nacht lag er auf dem Bauch im gefrorenen Gras, jammerte nach Trude und versuchte mit bloßen Fäusten die harte, kalte Erde aufzubrechen. Irgendwann gab er auf und kroch unter dem Zaun durch in Gerta Frankens ehemaligen Garten, der nie ein richtiger Garten gewesen war. Er suchte im dornigen Gestrüpp, irrte in der Wildnis umher, wimmerte und weinte sein «Fein?» in die Nacht, während sein Vater die Gegend nach ihm absuchte.
Es war ein aussichtsloses Unterfangen. Jakob wusste nicht einmal, in welche Richtung sein Sohn sich davongemacht hatte. Während Ben durch den Bruch stolperte, lief Jakob auf die Abzweigung zu, weil er annahm, Ben habe den Weg eingeschlagen, den das Taxi mit Trude genommen hatte. Der Wind brauste und pfiff ihm um die Ohren und machte jedes Rufen zu einer Farce. Trotzdem brüllte Jakob sich fast die Lungen aus dem Leib, triebden Strahl einer Taschenlampe in die Nacht und stemmte sich gegen die Böen.
Dann lief Jakob zum Bruch und zum Bendchen und wieder zurück. Was ihn am meisten beunruhigte, war die Tatsache, dass Ben nur einen dünnen Schlafanzug aus Flanell trug. Und er fror noch in seiner dick gefütterten Jacke und trotz der Anstrengung. Er holt sich den Tod in der Kälte, dachte er mehrfach.
Jakob fand ihn erst gegen fünf in der Früh unter dem Birnbaum, durchgefroren bis auf die Knochen, mit den Zähnen klappernd, am ganzen Körper zitternd. Jakob half ihm auf die Beine, legte ihm seine Jacke um, schleppte ihn heim, steckte ihn in die heiße Badewanne und anschließend ins Bett.
Während Trude auf dem Operationstisch lag, beugte sich Antonia über Bens Stirn, fragte nach dem Fieberthermometer und befand, es sei besser, den Hausarzt zu rufen. Doch außer Zäpfchen gegen das Fieber und zusätzlichen Wadenwickeln wusste der Arzt keinen Rat.
Den ganzen Tag und die Nacht saß Jakob neben dem Bett seines Sohnes, schlief hin und wieder für Minuten ein und wurde jedes Mal aufgeweckt, wenn Ben sich herumwälzte, stöhnte, jammerte oder plötzlich losschrie: «Finger weg! Rabenaas!»
Erst am nächsten Morgen kam Jakob dazu, sich telefonisch nach Trudes Befinden zu erkundigen. Sie war noch etwas schwach auf den Beinen, kam jedoch selbst ans Telefon. Mit keinem Wort beschwerte sie sich, dass sie am Vortag vergebens auf einen Besuch gewartet hatte. Sie erkundigte sich nur nach Ben und wie Jakob mit ihm zurechtkomme.
«Bestens», sagte Jakob mit einer vor Müdigkeit tonlosen Stimme. «Wirklich prima. Ich hab ihn schon zweimal gebadet. Ich glaub, das hat ihm gefallen.»
Kurz vor Mittag kam Antonia, um nach Ben zu schauen und einen Eintopf auf den Küchentisch zu stellen. Als sie den Vorschlag machte, Ben mitzunehmen, lehnte Jakob mit halbem Herzen ab. «Das kann ich wirklich nicht von dir verlangen. Ich komm schon klar mit ihm. Das Fieber ist hoch, er phantasiert, aber …» Dann war er doch erleichtert, als Antonia darauf bestand. Er half ihr,
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