Der Puppengräber
jedenfalls hatte er sich beschimpfen und verscheuchen lassen. Der Mais drückte Paul auf die Seele. Ben lag nicht nur morgens und mittags dort mit wachsamen Augen und guten Ohren, die alles registrierten, was sich auf den Wegen tat, sondern auch nachts. Das wusste Paul. Und wohin lief ein Mädchen, das nachts aus einem Auto geworfen wurde, wenn Onkel und Tante in der Nähe wohnten? Marlene wäre zu ihnen gekommen, das stand für Paul außer Frage. Vorausgesetzt, die beiden Burschen, die man in Lohberg hatte laufenlassen müssen, hatten die Wahrheit gesagt.
Paul wusste nicht mehr, was er denken und glauben sollte. Wäre Ben statt zwei Metern nur knapp eins fünfzig groß gewesen, hätte er achtzig oder neunzig Pfund weniger durch die Gegend getragen und statt der vermaledeiten Messer, von denen er die Finger nicht lassen konnte, statt des Spatens und des Fernglases ein Eimerchen und ein Schäufelchen bei sich gehabt, hätte niemand einen schlimmen Gedanken an ihn verschwendet.
Das Dorf suchte nicht nach einem Sündenbock. Es suchte nach einem jungen Mädchen, eigentlich nach zweien, genaugenommen schon nach dreien. Aber um Svenja Krahl machte sich niemand Gedanken, Edith Sterns kurzen Besuch hatte kaum jemand registriert.
Und niemand kam auf die Idee, der Polizei von Bruno Kleus nächtlichen Touren zu erzählen, die mehr Leuten bekannt waren als nur Heinz Lukka. Niemand meldete auf der Wache in Lohberg, dass Albert Kreßmann mit Marlene Jensen gerne einmal Verstecken gespielt hätte. Niemand machte die Beamten darauf aufmerksam, dass Dieter Kleu schon in der bewussten Nacht allen Grundgehabt hätte, dem Wagen von Klaus und Eddi zu folgen. Niemand sprach vor offizieller Seite von Benjamin Schlösser, der nicht so denken konnte wie andere, der gerne mit Messern spielte und tiefe Löcher grub, die man anschließend mit der Lupe suchen musste.
Während Paul noch grübelte, warf Tanja Schlösser in dem Zimmer, dass sie mit Britta Lässler teilte, wahllos ein paar Kleidungsstücke in ihre Schultasche, nachdem sie zuvor die Hefte und Bücher herausgenommen hatte. Mit der Tasche über der Schulter erschien sie Minuten später in der Diele, dicht gefolgt von Britta, die inständig bettelte: «Bleib doch hier.»
Tanja baute sich wie die Göttin des Zorns im Türrahmen auf und erklärte nachdrücklich: «Ich gehe nach Hause. Meine Familie braucht mich jetzt.» Es war etwas zu viel Pathos, aber den entschuldigten ihre dreizehn Jahre.
Bis zu dem Moment waren Paul und Antonia, Andreas und Achim, Annette und Britta ihre Familie gewesen. Tanja hatte sich nie gefragt, wie ihrem Vater zumute sein mochte, wenn er auf einen Besuch kam, um sie in den Arm nehmen zu können.
Auf ihre Weise liebte sie Jakob, der ohne Murren die Börse zückte und den zweiten Kinobesuch in einer Woche finanzierte, der noch einen Zehner zulegte für die Eisdiele, wo Tanja noch nie hatte bezahlen müssen, weil sie Brittas Großvater der Einfachheit halber ebenfalls Opa nannte und er sich darüber freute. Jakobs Zehner sammelte Tanja für größere Anschaffungen, zum Beispiel eine Jeans, von der Antonia behauptete, sie sei überteuert. Bei ihrem Vater konnte Tanja dann behaupten, Onkel Paul habe bezahlt.
Jakob hatte nie etwas verlangt, war immer der Sonntagspapa gewesen, an ihm gab es keine Schattenseiten.Mit der Liebe zu ihrer Mutter war es nicht so weit her. Trude hatte dazu auch wenig Anlass gegeben. Zu ihren älteren Schwestern hatte Tanja gar kein Verhältnis. Ben dagegen …
Mit einem Funkeln in den Augen fügte sie hinzu: «Und wenn Papa es erlaubt, schlafe ich in Bens Zimmer.»
«Du gehst nicht allein», sagte Paul. «Wenn du unbedingt willst, fahre ich dich.»
Sie antwortete ihm mit einem trotzigen Lächeln: «Ich brauche keinen Leibwächter, Ben ist mein Bruder.»
Paul stand trotzdem auf und folgte ihr. Er ließ ihr einen Vorsprung von gut dreißig Metern, weil sie sich immer wieder mit wutblitzenden Augen nach ihm umschaute. Ihr Fahrrad hatte sie nicht mitgenommen, es war ein Weihnachtsgeschenk von Paul und Antonia. Und so aufgebracht, wie sie im Augenblick war, hielt sie es wohl für besser, einen deutlichen Strich zu ziehen zwischen den Familienbanden.
Außer ihr war auf dem Weg weit und breit niemand zu sehen. Paul ließ den Blick und die Gedanken schweifen. Der Mais machte ihm Sorgen, nicht nur wegen Ben. Nach den letzten Wochen brütender Hitze waren die Blätter gerollt von der Trockenheit. Die Kolben verloren ihre Körner. Ein
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