Der Puppengräber
offensichtlich. Er wollte das Mädchen, nicht das Fahrrad. Mehrfach rief er, der alte Mann solle die Kleine nicht anfassen. So hat er das nicht ausgedrückt. Aber ich habe ihn so verstanden. Und ich fand, dass der alte Mann irgendwie komisch reagierte.»
Britta schaute unschlüssig und nun auch ängstlich zu Ben hinüber, der wüst auf der Stelle tänzelte und mit den Armen um sich schlug. Noch ein winziger Augenblick des Zögerns. Dann lehnte sie ihr Rad an den niedrigen Zaun vor Lukkas Vorgarten. Als sie hinter Heinz Lukka zur Haustür ging, geriet Ben völlig außer sich. Er kam in großen Sätzen auf das junge Ehepaar zu, gestikulierte heftig mit beiden Händen und schrie: «Rabenaas! Finger weg!»
Nicole Rehbach bekam nun doch Angst vor ihm. So schnell wie mit dem Rollstuhl möglich lief sie los. Ben rannte noch ein Stück hinter ihnen her. Sie hörte seine Schritte und wagte es nicht, sich nach ihm umzudrehen. Erst als sie den Stacheldraht hinter sich gelassen hatte und sah, dass noch Leute in den Gärten waren, blieb sie stehen und schaute sich noch einmal um. Von dem tobenden Riesen war nichts mehr zu sehen. Sie nahm an, er sei um den Bungalow herumgelaufen.
Es war ihrem Mann nicht recht, dass sie eine ältere Frau in einem der Gärten ansprach. Er verlangte wieder, sie solle sich nicht einmischen. Doch sie waren zuvor an der Rückseite des Bungalows vorbeigekommen. Nicole Rehbach hatte gesehen, dass die Terrassentür offen stand. Und sie dachte, wenn dieser Koloss durch die offene Tür eindringt – so ein schmächtiger Mann und das junge Mädchen, was sollen sie ausrichten gegen diesen Brocken?
Aber die Frau im Garten sagte: «Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Lukka wird schon mit ihm fertig, der weiß, wie man mit ihm umgehen muss. Außerdem geht Ben nicht in Lukkas Haus, bestimmt nicht über die Terrasse. Das hat Lukka ihm schon vor Jahren abgewöhnt.»
LUKKAS HUND
Nachdem Lukka seinen letzten Schäferhund hatte einschläfern lassen müssen, hatte er lange gezögert, sich einen neuen Hausgenossen anzuschaffen. Wie er Thea Kreßmann mehrfach erklärte, war er zu der Einsicht gelangt, dass vielleicht nicht allein die enge Mietwohnung eine Verhaltensstörung bei dem Tier verursacht hatte.Die Einsamkeit tagsüber mochte ihren Teil dazu beigetragen haben. Und an dieser Einsamkeit änderte auch der Umzug ins neue, große Heim nichts. Tagsüber war er nun einmal in der Kanzlei in Lohberg, eine Stunde am Morgen und die Abende, mehr Zeit hatte er nicht, sich mit einem Hund zu beschäftigen. Nach dem brutalen Überfall im September 89 jedoch entschloss er sich zum Kauf eines robusten Bullterriers, der fertig abgerichtet und nicht so sensibel war wie ein Schäferhund.
Es war ein hässliches und bösartiges Vieh, das er frei im Haus laufen ließ, wenn er nicht daheim war. Antonia Lässler sah den Hund jedes Mal, wenn sie vorbeikam. Mit gefletschten Zähnen hetzte er von einem Fenster zum anderen. Er bellte nie, war nur da und schien darauf zu warten, seine Zähne einsetzen zu dürfen. Antonia sagte oft: «Ich warte darauf, dass er durch die Scheibe geht. Das ist ein Killer.»
Paul sprach Heinz Lukka mehrfach auf die Gefahr an. Heinz beschwichtigte jedes Mal. Der Hund war im Haus, Türen und Fenster waren geschlossen. Es konnte überhaupt nichts passieren.
Es passierte auch nichts. Antonias Furcht verlor sich allmählich. Der Bullterrier in Lukkas Bungalow wurde zu einer festen Einrichtung, um die man sich kaum noch kümmerte. Manchmal zuckte man zusammen, wenn man vorbeiging und er plötzlich an einem Fenster auftauchte. Im Frühjahr 90 jagte er Paul einen höllischen Schrecken ein, als er abends einen Inspektionsgang durch den jungen Mais machte und der Hund plötzlich auf der Terrasse stand und ein Grollen von sich gab. Aber ein kurzer Ruf von Heinz Lukka genügte, und das Tier trottete zurück ins Haus. «Er gehorcht ihm aufs Wort», sagte Paul anschließend zu Antonia.
An einem Abend im Juni 90 verließ Ben den Lässler-Hofkurz nach sieben. Bis dahin hatte er mit den Kindern neben der Garage gespielt. Heinz Lukka war bereits seit einer halben Stunde daheim, saß in seinem Arbeitszimmer und setzte einen Schriftsatz auf, wozu er am Nachmittag nicht gekommen war. Der Hund lag unter seinem Schreibtisch. Die Tür zur Diele stand offen, die zum Wohnzimmer ebenfalls. Auch die Terrassentür war in der milden Abendluft weit geöffnet.
Bevor Ben an diesem Tag auf dem Lässler-Hof erschienen war, hatte er eine
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