Der Puppengräber
persönlichen Probleme wogen zu schwer, als dass sie sich daneben noch mit etwas anderem hätte beschäftigen können.
Seit gut einem halben Jahr verheiratet, hatte sie nur drei Wochen eine Ehe geführt. Anfang März, genau einundzwanzig Tage nach der standesamtlichen Trauung, war Hartmut Rehbach mit seinem Motorrad gestürzt. Er hatte einen komplizierten Armbruch erlitten, in dessen Folge der Arm steif blieb. Den rechten Unterschenkel hatte man amputieren müssen. Aber das waren nicht die schlimmsten Verletzungen gewesen.
Nicole Rehbach wusste noch nicht, wie sie weiterleben sollte mit einem Mann, der kein Mann mehr war. Sie wusste an diesem Abend auch nicht, wen sie vor sich hatte, und griff nicht ein, als Ben und Britta auftauchten.
Ben wollte Britta zur Seite ziehen. Sie entriss ihm ihren Arm und funkelte ihn wütend an: «Lass das! Wir bleiben auf dem Weg. Papa hat gesagt, immer schön in der Mitte bleiben, dann hat man Zeit wegzulaufen.»
Ben griff erneut nach Brittas Arm, hielt ihn diesmal fester und schüttelte heftig den Kopf. «Finger weg», sagte er und beugte sich so tief hinunter, dass er mit den Lippen ihr Ohr streifte. «Freund», sagte er. Dabei glitten seine Lippen über ihre Wange.
«Hör auf, du Idiot», schluchzte Britta. «Du bist selber schuld, wenn alle so was von dir denken. Du kannst nicht mein Freund sein. Du kannst überhaupt keine Freundin haben.»
Sie riss sich erneut los. Und dann machte Britta Lässler den entscheidenden Fehler. Sie stieß ihn heftig mit einer Faust vor die Brust und schlug nach ihm. Dabei schluchzte sie noch einmal laut auf und rief: «Hau ab, du Idiot!»
Ben ließ auf der Stelle den Lenker des Rades los. Es kippte um. Britta hob es auf, warf den Kopf in den Nacken und ging an Nicole Rehbach vorbei auf Lukkas Bungalow zu.
Nicole Rehbach schob ihren Mann im Rollstuhl weiter und drehte sich mehrfach um, um zu sehen, was weiter geschehen würde. Ben folgte Britta zögernd, rief ein paarmal Rabenaas, jedes Mal ein wenig lauter. Er war sehr erregt, seine Sprache undeutlich. Nicole Rehbach verstand: «Haben das.» Sie nahm im ersten Moment an, er wolle das Fahrrad haben. Irgendwie tat er ihr leid. Seinem Äußeren war keine Beeinträchtigung anzusehen, aber sein Gebaren war typisch.
Bens Geschrei brachte Heinz Lukka an die Haustür. Er sah das weinende Mädchen und Ben ein paar Meter dahinter. Die junge Frau und den Mann im Rollstuhl beachtete er nicht sofort.
«Na, na, na», sagte Heinz Lukka besänftigend, schaute Ben an und lächelte. «Wer wird denn so laut schreien? Das machst du doch sonst nicht.»
Dann sprach er Britta an. «Kummer, kleines Fräulein?» Immer noch lächelnd und trotzdem sehr ernst, meinte er: «Du solltest nicht so weinen, wenn er in der Nähe ist. Ich glaube, das macht ihn nervös.»
Ben war stehen geblieben, als die Haustür geöffnet wurde. Er begann auf der Stelle zu tänzeln, schaute mit vor Erregung zuckender Miene zwischen Heinz Lukka und Britta hin und her. Seine Hände öffneten und schlossen sich wie die eines Kleinkindes, das etwas Bestimmtes haben will. Er schrie laut und so deutlich, dass Nicole Rehbach jedes Wort verstand: «Finger weg, Freund!»
«Aber sicher», sagte Heinz Lukka. «Du bist mein Freund, und du musst die Mädchen in Ruhe lassen. Das weißt du auch, nicht wahr? Ich bin sicher, du wolltest Britta nichts tun. Dir tut auch niemand etwas. Geh nach Hause, Ben. Geh zu Mutter.»
Ben tänzelte weiter auf der Stelle, schüttelte heftig den Kopf und brüllte wieder: «Finger weg!»
Heinz Lukka zog unbehaglich die Schultern zusammen und erkundigte sich bei Britta: «Warum ist er denn so aufgeregt? So habe ich ihn ja noch nie erlebt. Hast du ihm etwas getan?»
Britta zuckte mit den Achseln und schürzte die Lippen. Nicole Rehbach hatte längst haltgemacht und rief zu Lukka hinüber. «Er hat sie auf die Wange geküsst. Da hat sie ihn beschimpft und geschlagen.»
«Misch dich da nicht ein», murrte ihr Mann. «Los, ich will nach Hause.»
«Vielen Dank», rief Heinz Lukka zurück. «Ich kümmere mich darum.» Er wandte sich Britta zu, meinte tadelnd: «Das darfst du nicht machen. Wenn du ihn schlägst, wird er genauso wütend wie jeder andere. Komm einen Moment herein, dann beruhigt er sich bestimmt.»
«Finger weg!», brüllte Ben erneut.
Für Nicole Rehbach sah es aus, als wolle er sich im nächsten Moment auf den alten Mann an der Tür stürzen. Sie sagte später: «Ich hab nicht gleich geschaltet, dabei war es
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