Der Puppengräber
lang auftauchte. Irgendwo musste er schließlich sein. Trude schlich umher wie ihr eigener Schatten. «Du solltest sie heimbringen», riet Uwe von Burg seinem Schwiegervater. «Sie kann sich doch kaum noch auf den Beinen halten.»
Und Toni von Burg sagte: «Mach dir keine Sorgen um Ben, Jakob. Wenn ich ihn sehe, bringe ich ihn heim.»
Mit Trude im Arm brauchte Jakob länger als eine Stunde, ehe er den Hof erreichte. Unentwegt murmelte Trude etwas vor sich hin. Jakob verstand sie nicht, zog sie nur fester an sich, weil sie ständig über ihre eigenen Füße stolperte. Als sie in die Hofeinfahrt einbogen, sahen sie ihn sitzen – auf den Stufen vor der Haustür. Er spielte mit seinem Springmesser, ließ die Klinge herausschnappen, wieder verschwinden, erneut herausschnappen. Und vor ihm auf dem Boden lag Brittas Rad.
«Fein, Finger weg», sagte er und fuchtelte mit der Klinge herum.
Trude schrie auf und begann zu wimmern. Jakob setzte sie neben Ben auf die Stufe und riss seinem Sohn das Messer aus der Hand. Er presste die Zähne aufeinander, dass es knirschte. «Wo ist das Mädchen?», fragte er. «Wo ist Britta?»
«Rabenaas», sagte Ben.
Jakob holte aus und schlug mit der geballten Faust zu. Er schlug so lange, bis Trude ihm in den Arm fiel. Aus ihrem Wimmern war ein Kreischen geworden. «Hör auf! Hör auf, du schlägst ihn ja tot.»
«Das wäre das Beste!», sagte Jakob.
Ben saß noch auf der Stufe. Er war bei jedem Schlag mit dem ohnehin wunden Rücken gegen die scharfe Kante einer anderen Stufe geprallt. Sein Gesicht war an zwei Stellen aufgeplatzt. Von der linken Augenbraue lief ihm ein dünner Streifen Blut die Schläfe entlang. Seine Nase blutete ebenfalls, eine Lippe war eingerissen. Und jetzt, fand Jakob, sah er aus wie ein Teufel.
Nachdem er von ihm abgelassen und die Haustür geöffnet hatte, erhob sich ein Teil von Trude und brachte Ben in die Küche, drückte ihn auf einen Stuhl, holte ein sauberes Tuch und machte sich daran, die aufgeplatzten Stellen mit kaltem Wasser zu betupfen.
Wie oft in all den Jahren hatte sie das tun müssen? Wie viele Beulen, Schrammen und Striemen hatte er heimgebracht? Wie viele Schläge, Tritte, Bisse und Kratzer hatte er eingesteckt?
Der andere Teil Trudes blieb vor der Haustür zurück, hob Brittas Rad vom Boden, stieg in den Sattel und radelte davon. Und während dieser Teil kräftig in die Pedale trat, während der Fahrtwind ihm das Haar aus dem Gesicht blies und die Gedanken kühlte, verschmolz etwas mit dem Rahmen, den Reifen, dem Lenker, tauchte tief und tiefer ein in Metall, Gummi und Vergangenheit, um zu ergründen, was das Rad gesehen hatte in den letzten Stunden. Den Mais! Zwischen den Speichen des Vorderrades hatte sich ein Stückchen von einem vertrockneten Blatt verfangen. Jakob hatte es nicht bemerkt in seiner hilflosen Wut und Verzweiflung.
Der Teil Trude, der in der Küche stand, fragte: «Willst du nicht die Polizei rufen?»
«Nein», sagte Jakob. «Jetzt lohnt sich das nicht mehr. Wenn er das Kind angerührt hat, wozu soll ich ihn da noch einsperren lassen?»
Trude schloss die Augen und hielt sich an der Tischkante fest. Jakob kontrollierte die lange Messerklinge. Spuren von Blut gab es daran nicht, nur ein paar Rostflecken. Er steckte es in seine Hosentasche, stieg die Treppe hinauf und ließ Tanja, die bereits heftig gegen die Tür klopfte, aus dem Zimmer. Zu zweit kamen sie zurück in die Küche. Jakob blieb bei der Tür stehen und beobachtete mit steifer Miene, wie Trude sich abmühte.
Tanja war mit zwei entsetzten Sprüngen neben dem Stuhl, ging in die Knie, legte den Kopf auf ein Bein ihres Bruders und strich mit einer Hand über das andere Bein. «Mein armer Bär, was haben sie mit dir gemacht?»
«Komm da weg», verlangte Jakob.
Als sie sich nicht von der Stelle rührte, kam er herein, riss sie am Arm in die Höhe, stieß sie beiseite und schaute Ben an. «Wenn du dich an der Kleinen vergriffen hast», sagte Jakob ruhig. «Wenn du ihr auch nur ein Haar gekrümmt hast, gehen wir beide auf eine lange Reise.»
Trude reagierte nicht. Tanja schrie auf und machte ihrer Entrüstung Luft in einem Ton, den Jakob nicht von ihr kannte. «Du bist ja völlig übergeschnappt. Was redest du für einen Mist?»
Jakob reagierte nicht. Er inspizierte Bens Hemd und die Hose, schaute sich Bens Hände genau an. Sie waren nicht schmutziger als sonst. Und sein Klappspaten lag im Keller. Er hatte ihn am vergangenen Abend nicht mitgenommen, als er seine
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