Der Puppengräber
neben ihnen auf den Stufen sitzen, wenn Tanja rief: «Jetzt ist Feierabend, Bär, jetzt kommen die Männer zum Essen.» Und bis sie ihn riefen, zog er hinter dem Haus seine Kreise. Nickend und murmelnd überdachte er wohl seine Erkenntnisse des Lebens.
Gutmütig, das war alles, was Antonia dazu einfiel. Ein achtzehnjähriges Riesenkind, das mit Puppen spielte und sich von zwei kleinen Mädchen kommandieren ließ. Warum sollte Trude da nicht für ein paar Tage eine Freiheit genießen, die sie nicht kannte? Aller Sorgen und Pflichten ledig.
Als Jakob an dem Abend heimkam und von dem Vorschlag berichtete, den Paul und Antonia gemacht hatten, fasste Trude es gar nicht, wollte zunächst auch nicht so recht. Aber Jakob hatte bereits Gefallen daran gefunden, erinnerte an ihren Aufenthalt im Krankenhaus,wo das doch auch prima geklappt habe mit Ben und Antonia.
Drei Tage später lud Jakob zwei Koffer ins Auto. Für eine Woche in den Schwarzwald, eine kleine Pension, Doppelzimmer mit fließend Wasser und Frühstück. Vor der Abfahrt versah Trude Antonia mit Ratschlägen, Hinweisen, Verhaltensmaßregeln und der Telefonnummer der Pension für Notfälle.
Als sie zu Jakob ins Auto stieg, rechnete sie fest damit, dass Ben sie zurückhielt, dass er an ihrem Arm riss, tobte und jammerte. Aber Ben stand vor Lässlers Haustür, links und rechts ein kleines Mädchen neben sich. Ben strahlte wie die Sonne an einem klaren Frühlingsmorgen und hob erst den Arm und winkte, als Antonia ihn dazu aufforderte.
Richtig genießen konnte Trude ihren Urlaub trotzdem nicht. Hundertmal am Tag fragte sie sich, was er wohl gerade tat. Dreimal rief sie abends bei Antonia an. Jedes Mal lachte Antonia und umriss in knappen Worten, womit Ben sich die Zeit vertrieb. Spielen, essen und schlafen. Und wenn sie ihm, natürlich nur unter Aufsicht, ein kleines Küchenmesser und eine dicke Kartoffel überließ, ritzte er ein Muster in die Schale. Was es darstellen sollte, wusste Antonia nicht, aber es sah hübsch aus.
In den ersten Tagen blieb Antonias gutes Werk unentdeckt. Wäre das so geblieben, hätte sich niemand aufgeregt. Dass Trude und Jakob im Schwarzwald weilten, war keinem bekannt. Aber dann machte Antonia den Fehler, am Sonntagnachmittag mit drei Kindern die Eisdiele ihres Vaters aufzusuchen. Ihr Vater setzte sich zu ihnen an den Tisch. Illa und Toni von Burg stießen dazu. Und zwei Tische weiter saß Thea Kreßmann mit ihrem Sohn.
Antonia berichtete über die zurückliegenden Tage, wiegutmütig Ben war, wenn man ihm nur ab und zu ein gutes Wort, ein Lächeln oder eine sanfte Hand gönnte. Er könne schmusen wie ein alter Kater, erzählte Antonia. Ein Wunder, dass er nicht schnurrte dabei. Vor allem morgens, wenn er aus dem Bett kam, war er weich wie ein Federkissen, blieb bei der Küchentür stehen, bis sie sich zu ihm umdrehte und die Arme ausbreitete. Dann kam er mit verschämtem Grinsen näher, ließ sich umarmen und auf die Stirn küssen, wobei er den Kopf tief hinunterbeugen musste, und dann rieb er sein Gesicht in Antonias Halsbeuge. Es sei eine Schande um ihn, sagte Antonia, dass ihm die Liebe für sein ganzes Leben versagt bleiben würde.
Toni von Burg betrachtete Ben mit wehmütigem Blick, stimmte Antonia zu und erinnerte an seine kleine Schwester, der ihr gesamtes Leben versagt geblieben war.
Wenn es nach ihr ginge, sagte Antonia, und Paul Bens Vater wäre, würde sie verlangen, dass er mit ihm in gewisse Häuser ginge. Dass Paul sorgfältig auswählte, damit Ben nicht schlecht behandelt und eilig abgefertigt wurde.
Es sprach sich schnell herum, wie Antonia dachte. Und jeder halbwegs vernünftige Mensch im Dorf schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Diese Südländer, heißblütig und leichtlebig! Nichts anderes im Kopf als Schweinereien. Mit Ben in gewisse Häuser! Auf solch eine Idee konnte nur Antonia kommen. Da musste sich niemand wundern, wenn sie eines Tages auf die Idee kam, ihre eigenen Töchter zu ihm ins Bett zu stecken. Jeder im Dorf wartete auf das Unglück, das zwangsläufig kommen musste. Aber es kam nicht, nicht in jenem Jahr.
29. AUGUST 1995
Ein Tag, eine Nacht und wieder ein Morgen. Die ganze Nacht hatte Trude am Küchentisch gesessen. Jakob hatte sich auf die Couch im Wohnzimmer gelegt, um in ihrer Nähe zu sein, falls sie ihn brauchte. An einen Wecker hatte er nicht gedacht und verschlafen. Es war schon neun, als er aufstand. Er holte die Zeitung herein und legte sie aufgeschlagen vor Trude auf den
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