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Der Puppengräber

Der Puppengräber

Titel: Der Puppengräber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Vermutlich wussten es alle im Dorf, weil Ben im Juni ausgerechnet Albert Kreßmann und Annette Lässler dort aufgescheucht hatte wie zwei Rebhühner. Albert hatte sich anschließend damit gebrüstet, wie er den bekloppten Ben zur Schnecke gemacht habe. Dass er ausgestiegen war und mit einer obszönen Geste gebrüllt hatte: «Pass auf, du Idiot, für dich nur so!», während Pauls älteste Tochter in aller Eile Rock und Bluse anzog, hatte Albert nicht erzählt, das musste man sich denken.
    Paul Lässler hatte ein paar Tage später, wahrscheinlich im Auftrag von Antonia, die mit ihrem großen italienischen Herzen für Ben mehr als eine Lanze brach, die Sache heruntergespielt. «Lass ihn in Ruhe, Jakob. Malabgesehen davon, dass er vermutlich nicht mehr weiß, worum es geht, wenn du davon anfängst, was hat er denn gemacht? Nur mit der Hand ins Auto gefasst. Sie hätten ja die Scheiben nicht runterdrehen müssen. Was hatten sie überhaupt dort zu suchen?»
    Das hatte Trude auch gefragt. Und aufgeregt hatte sie sich, dass es beim Bendchen zuginge wie in einem Freudenhaus.
    Jakob hob die Schultern und gab sich gelassen, um sie zu beruhigen, obwohl auch er einen Anflug von Hysterie verspürte. Ben war draußen gewesen in der Nacht, als Marlene Jensen verschwand. Dass er etwas mit diesem Verschwinden zu tun haben könnte, von dem Gedanken war Jakob noch meilenweit entfernt. Er fürchtete etwas im Grunde Harmloses.
    Nur einmal angenommen, es hatte ihn einer gesehen. Dann hieß es garantiert wieder, sie müssten ihn festhalten. Er ließ sich nur leider nicht festhalten. Und dann hieß es wieder, wenn sie nicht mit ihm fertigwürden, müssten sie ihn in eine Anstalt geben.
    Das war Trudes Albtraum. Jakob wusste das. Er wusste auch, es wäre Bens Untergang. Mauern, Gitter und Spritzen, wenn er toben würde. Wer könnte sich in einer Anstalt darum kümmern, dass er die Freiheit brauchte? Dass er nichts weiter wollte als laufen, springen, hier und dort ein bisschen graben?
    «Irgendwo müssen sie ja anfangen», sagte Jakob und fügte nach ein paar Sekunden hinzu: «Und es wird doch Zeit. Nach einer Woche! Hast du gelesen? Die beiden Kerle, mit denen sie zusammen war, haben sich immer noch nicht gemeldet.»
    Trude nickte. Eine Weile standen sie schweigend nebeneinander. Einige der Figürchen draußen verließen den Wald und schwärmten über den Weg. «Die wollendoch nicht etwa Richards Weizen zertrampeln?», meinte Jakob ungehalten. «Ich hol mal das Glas, das will ich genauer sehen.»
    Er drehte sich um und ging zur Tür. Dabei schaute er zwangsläufig direkt auf das Bett. Der Überwurf lag bereits glatt über den Decken und Kissen. Unvermittelt gab es ihm einen Stich. Früher hatten am Kopfende immer zwei Paradekissen mit üppigen Bezügen aus Spitzen und Rüschen auf dem Überwurf gelegen. Und dazwischen hatte die Puppe gesessen, an die ihn Marlene Jensens Gesicht in der Zeitung erinnert hatte.
     
    Im September 69 hatte Jakob die Puppe auf dem Schützenfest gewonnen, ein wunderschönes Exemplar, an dem Trudes ganzes Herz hing. Sie war fast so groß wie ein Kind von drei oder vier Jahren. Ein zerbrechliches Porzellangesicht unter halb aufgetürmten und halb bis auf die Schultern hängenden hellblonden Locken. Ein weißes Spitzenkleid, mit zarten blauen Bändern abgesetzt, unten im Rock ein Reifen, dass man das Kleid wie ein Wagenrad auf dem Bett ausbreiten konnte.
    Für zehn Mark Lose, eine Niete nach der anderen. Dann der Hauptgewinn. Und Trude war fast verrückt geworden vor Freude, hatte nach seinem Arm gegriffen, ihn gedrückt und geschrien: «Ich glaub es nicht! Ich glaub es nicht!»
    Es war so unwirklich lange her. Damals waren die Mädchen noch klein, Anita sechs, Bärbel zwei, an Ben dachte noch niemand. Nur Trude sprach davon, dass sie einen Sohn haben wollte, dass sie unbedingt einen Sohn haben mussten. Wer sollte sonst den Hof übernehmen?
    An dem Sonntag gingen sie nach dem Kaffee mit den beiden Töchtern zum Festplatz. Da hatte Trude die Puppe schon gesehen. Sie sagte nichts. Aber Jakob bemerkte denBlick. Sie ließen die Kinder ein paarmal auf dem Karussell fahren, kauften ihnen Flaschen mit Liebesperlen und Lebkuchenherzen. Eine Negerpuppe für Anita und einen Plüschaffen für Bärbel.
    Abends, als die Kinder schliefen, gingen sie ins Festzelt. Jakob in der schmucken Uniform des Schützenvereins, Trude mit frischer Dauerwelle in einem neuen, hellgrünen Organdy-Kleid.
    Sie saßen mit Richard Kreßmann und Thea,

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