Der Puppengräber
erwidern. «Bis jetzt ist es ja auch gegangen. Er ist ein bisschen wild, aber er tut keiner Menschenseele etwas.»
Und die zerquetschten Küken gingen keinen etwas an.
Auf der Heimfahrt fand sich zwar ein Fensterplatz,aber kein ruhiges Abteil. Trude musste ihn auf den Schoß nehmen, um Platz zu machen für einen Mitreisenden. Sie hielt unentwegt nach den Schafen Ausschau. Schäfchen zur Rechten …
Doch die Herde war über den Bahndamm auf die andere Seite gewechselt. Schäfchen zur Linken … Trude drückte ihn an sich und sagte: «Wir schaffen es schon, wir beide. Kannst ja nichts dafür, dass du so bist.»
20. AUGUST 1995
In den ersten Tagen unternahm die Polizei nichts, um das Schicksal von Marlene Jensen zu klären. Man sah keine Veranlassung. Von Marlenes Freundin hatte man eine Aussage erhalten, die den Verdacht untermauerte, die Tochter des Apothekers habe ausreißen wollen. Die Presse war eingeschaltet, viel mehr hätte man nach Lage der Dinge ohnehin nicht tun können.
Aber dann kam der Stein plötzlich ins Rollen, genau eine Woche nach Marlenes Verschwinden, wieder in der Nacht zum Sonntag. Um acht Uhr in der Früh begann eine große Suche in der Umgebung des Dorfes. Auch das Bendchen – so wurde ein Waldstück genannt, das die offenen Felder nach Osten begrenzte – durchkämmten zwei Dutzend Männer. Die Polizei aus Lohberg wurde unterstützt von Mitgliedern der freiwilligen Feuerwehr und einigen Hunden.
Kurz nach zehn ging Trude hinauf, um die Betten zu machen und das Fenster zu schließen, damit die Sommerhitze nicht ins Haus drang. Als sie ans Fenster trat, fiel ihr das Treiben auf. Drei grünweiße Transporter auf dem Weg, der am Waldsaum entlanglief. Zu hören war nichts,es war zu weit entfernt. Zu sehen war auch nicht viel, die Männer eben, die Hunde, die drei Wagen. Minutenlang schaute Trude sich das an, fühlte den Herzschlag sich von Sekunde zu Sekunde ausbreiten. Als er den Kopf erreichte und in den Ohren zu dröhnen begann, rief sie nach Jakob.
Er war nach dem Frühstück ins Wohnzimmer gegangen und hatte es sich mit der Zeitung vom Samstag in einem Sessel gemütlich gemacht. Samstags war er nicht dazu gekommen, sie zu lesen. Und diesmal war es ein großer Artikel mit einem Hinweis auf die unzulänglichen Busverbindungen, einer herzergreifenden Bitte an Marlene und einem dringenden Appell an die beiden jungen Männer, sich doch endlich zu melden.
Auch das Foto von Marlene Jensen war um einiges größer als das von Mittwoch. Ein bildhübsches Mädchen, fand Jakob, der Paul Lässlers Nichte vorher nicht so bewusst zur Kenntnis genommen, nur manchmal gedacht hatte, sie sei Maria wie aus dem Gesicht geschnitten. Nun erinnerte ihn ihr Gesicht und mehr noch das lange, blonde Haar an eine aufwendige Porzellanpuppe.
Er legte die Zeitung auf den Tisch und erhob sich. Trudes Stimme schien ihm ein wenig hysterisch. Als er das Schlafzimmer betrat, zeigte sie mit ausgestrecktem Arm ins Freie. «Sieh dir das an. Was machen die da?»
Trude war mit ihren neunundfünfzig Jahren eine stattliche Frau, nur wenig kleiner als Jakob und kräftig gebaut. Sie war nicht dick, doch man sah ihr an, dass sie lange Jahre Männerarbeit geleistet hatte. Jetzt wirkte sie wie ein ängstliches junges Mädchen beim Anblick von drei Tropfen Blut.
«Was sollen sie schon machen?», sagte Jakob und legte ihr den Arm um die Schultern. «Suchen. Das siehst du doch.»
Trude nickte, ihre Stimme wurde vor Abwehr schrill. «Und warum ausgerechnet da?»
Es war Bens Revier. Tag und Nacht war er auf derselben Strecke unterwegs. Die sechshundert Meter von der Tür des Elternhauses bis zum breiten Weg. Dort wandte er sich nach links, lief die zwei Kilometer zwischen den Gärten und Feldern bis zu Lukkas Bungalow. Dort bog er wieder nach links und rannte die achthundert Meter bis zum Lässler-Hof. Dort trieb es ihn schräg nach links etwas mehr als einen Kilometer bis zum Bruch, einem alten Bombenkrater. Von da aus wieder schräg nach links noch einmal einen guten Kilometer bis zum Bendchen. Von dort kam er dann zurück zum Elternhaus.
Hier und da auf seiner Route machte er Station. Manchmal hockte er stundenlang in Paul Lässlers Maisfeld, das Heinz Lukkas Grundstück an der Wegkreuzung von zwei Seiten umschloss. Manchmal grub er auf der Suche nach verborgenen Schätzen den halben Bruch um. Manchmal legte er sich im Bendchen auf die Lauer. Dort war es nachts besonders interessant.
Jakob wusste es, Trude wusste es.
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