Der Puppengräber
Bärbel entschuldigte sich wortreich, sie habe wirklich nur eine Sekunde lang nicht auf den Hof geschaut und bereits den Feldweg und die Gemeindewiese nach Ben abgesucht.
Während die Kundin der Kassiererin erzählte, sie habe eine Parterrewohnung gemietet und würde sich von den Nachbarn fernhalten, verließ Trude ohne Einkäufe den Supermarkt. Die Kundin und die Kassiererin tauschten einen pikierten Blick. Die Kassiererin erzählte von Ben. Die Kundin revanchierte sich mit einem ähnlichen Fall aus ihrer Nachbarschaft.
Eine Familie Mohn mit Tochter Ursula, rein äußerlich ein hübsches Kind, acht oder neun Jahre alt und so aufdringlich, dass es einem den letzten Nerv raubte. Egal, wem dieses Geschöpf im Hausflur begegnete, es grinste jeden an, erwartete ein freundliches Wort und wurde handgreiflich, wenn es das nicht bekam. Ständig fasste es die Leute an, hatte schon mehr als einmal seine klebrigen Finger an sauberen Hemden oder Kleidern abgewischt. Und der Hauseigentümer, Toni von Burg, vertrat den Standpunkt, das sei doch alles nur halb so wild. Eine Zumutung für die gesamte Nachbarschaft, wenn solche Leute ihre Kinder nicht unter Kontrolle hielten.
Währenddessen hetzte Trude, fast in den Pedalen stehend, durchs Dorf. Bärbel hatte sie heimgeschickt in der Hoffnung, dass Ben den Rückweg alleine fand. Trude war bereits am Café der Schwestern Rüttgers vorbeigerast, als sie hinter sich laut ihren Namen rufen hörte. Eine der Schwestern stand am Straßenrand und gestikulierte, Trude solle zurückkommen.
Die Rüttgers-Schwestern waren beide Anfang fünfzig und unverheiratet. Sie führten das Café und die dazugehörige Konditorei mit Unterstützung ihrer Cousine Sibylle Faßbender, die Bäcker und Konditor gelernt hatte.
Ben saß in der Backstube auf einem Stuhl, zappelte nur ein wenig mit den Beinen und ließ sich von Sibylle Faßbender mit Torte füttern. Sibylle erklärte, dass ihre jüngere Cousine auf Ben aufmerksam geworden war, als er ganz verloren über den Gehweg vor dem großen Schaufenster dahintrottete. Geistesgegenwärtig war sie hinausgerannt, hatte ihn bei der Hand ergriffen und in die Backstube geführt, wo sich Sibylle seiner annahm. Man habe bereits angerufen, sagte Sibylle, aber es habe niemand abgehoben.
Bis dahin hatte Trude es nur einmal gewagt, zusammen mit Jakob und Ben beim Sonntagsspaziergang das Café Rüttgers zu betreten. Antonia Lässler hatte sie dazu überredet und ihr einen Vortrag gehalten über falsche Scham. Anschließend hatte sich Jakob aufgeregt, weil Ben für erhebliches Aufsehen sorgte, als er sein Hemd mit Sahne beschmierte und seinen Teller zerbrach. Und als er Trude die Kuchengabel aus der Hand riss, weil er allein essen wollte, hatte er die kleine Vase mit den Nelken umgestoßen. Jetzt musste man das als glückliche Fügung bezeichnen. Sonst hätte am Ende niemand im Café gewusst, wer vor dem Schaufenster vorbeischlich.
Am Abend erfuhr Trude von Jakob, dass Ben die Sympathie,die ihm entgegengebracht worden war, vermutlich der kleinen Christa von Burg zu verdanken hatte. Als junges Mädchen hatte Sibylle Faßbender die kleine Christa betreut. Darüber hinaus hatten die Rüttgers-Schwestern ihren einzigen Bruder an der Ostfront verloren. Und der sei auch nicht so hundertprozentig gewesen, sagte Jakob, ein Träumer, aber als Kanonenfutter gut genug.
Dann lächelte Jakob verhalten und bewunderte zum ersten Mal Bens Gedächtnis. «Wir waren doch nur einmal mit ihm da. Dass er sich den Weg merken konnte. Aber ich glaube, er merkt sich gut, wo die Leute nett zu ihm sind. Und wenn er dann noch was Süßes bekommt …»
Trude glaubte nicht, dass es an der Freundlichkeit oder einem Stück Torte gelegen hatte. Ben war wohl einfach nur umhergelaufen, hatte seine Mutter gesucht und war zufällig zum Café gelangt. Aber sie widersprach Jakob nicht. Sie freute sich, dass es Leute gab, die Ben mochten. Und es waren nicht einmal wenige.
Der Rechtsanwalt Heinz Lukka führte regelmäßig morgens und abends seinen Schäferhund auf dem Feldweg aus. Jedes Mal blieb er stehen, wenn Ben auf der Gemeindewiese oder im Garten spielte. Heinz Lukka sprach mit ihm wie mit jedem anderen, immer freundlich und wohlwollend. Er nannte ihn «mein Freund» und steckte ihm Süßigkeiten zu.
Die alte Gerta Franken, die ihn oft von ihrem Kammerfenster aus beobachtete und manchmal hinaus in ihren Garten kam, wenn Trude sich draußen beschäftigte, sagte einmal: «Wenn ich ihn so vergleiche
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