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Der Puppengräber

Der Puppengräber

Titel: Der Puppengräber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Unvorhersehbares tat.
    Einmal für zwei Minuten nicht auf seine Stimme im Hof gehorcht, und er hatte das Beil aus dem Hauklotz gezogen, schwang es über seinem Kopf, hätte sich fast in die Schulter geschlagen. Einmal für drei Minuten in den Keller gegangen, und er hatte den Hahn am Dieselfass geöffnet, mit dem Jakob den Traktor betankte. Einmalfür eine Minute am Telefon, und er hatte einen Sack mit Kunstdünger aufgerissen. Trude konnte gerade noch verhindern, dass er sich das Zeug in den Mund stopfte.
    Sie versuchte, seinen Nachahmungstrieb für die Erziehung zu nutzen, und entschied, dass es nicht tragisch sei, wenn er mit einer Puppe spielte. Er wusste ohnehin nicht, dass er ein Junge war. Und vielleicht kam einmal der Tag, an dem sie froh und dankbar war, dass er es nicht wusste. Sie gab ihm eine der Puppen, die nur noch nutzlos auf Anitas Bett saßen. Und tatsächlich verschaffte sie sich damit die eine oder andere geruhsame Stunde am Nachmittag. Zeit, einen Korb Wäsche zu bügeln, Zeit zum Kochen.
    Seinen Freiheitsdrang hielt sie mit einem verschlossenen Hoftor in Schach. Auch das Scheunentor wurde stets zugezogen, obwohl das nicht mehr unbedingt notwendig gewesen wäre. Nach seiner bitteren Erfahrung mit der Katze setzte er ohne Trudes Begleitung keinen Fuß mehr in die Scheune.
    Nur wenn sie ihn mit in den Garten nahm, wurde es problematisch. Wie von einem Magneten angezogen trieb es ihn Richtung Feldweg. Trude versuchte, ihn zu beschäftigen, um ihn an ihrer Seite zu halten. Für jeden ausgerissenen Salatkopf, für jede vom Strauch gezerrte Bohne gab es ein dickes Lob. «Das ist lieb, dass du mir hilfst, da freu ich mich sehr. Das hast du fein gemacht.»
    Und wenn er einen Wurm aus der Erde buddelte, wenn er eine Raupe vom Blumenkohl oder einen Käfer von den Kartoffeln pflückte, sagte sie: «Das Würmchen musst du wieder begraben. Es ist gut für den Boden. Die anderen Tierchen sind Ungeziefer, die darfst du zertreten.» Er zertrat sie nicht, er stopfte sie sich in die Hosentasche. Und ehe sie dort ankamen, waren sie zerdrückt.
    Mehrfach entwischte er ihr auf der Suche nach Tierchenund Lob. Ein paarmal geriet sie noch außer Fassung, hetzte den Feldweg entlang, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Nachdem sie ihn auch beim fünften Mal auf der gemeindeeigenen Wiese fand – auf diesem Grundstück sollte später Heinz Lukkas Bungalow stehen   –, ließ sie ihn laufen. Die Wiese lag nur fünfhundert Meter vom Garten entfernt, etwas anstellen konnte er dort nicht, nur Käfer sammeln. Wenn er die Hosentaschen voll hatte, kam er von allein zurück und brachte ihr seine Beute.
    Allmählich normalisierte das Leben sich wieder, und Trude wurde ein wenig leichtsinnig. Ihr daraus jedoch einen Vorwurf zu machen wäre ungerecht. Sie tat, was sie konnte, sorgte auch dafür, dass seine Schwestern ihm nicht gar so arg zusetzten.
    Anita wählte sorgfältig aus, mit wem sie Umgang pflegte und mit wem nicht. Ben gehörte entschieden nicht dazu. Sie wurde hysterisch, wenn er in ihre Nähe kam, brüllte ihn an, schlug nach ihm und hielt ihn sich so vom Leib. Mit Bärbel war es damals noch nicht so schlimm. Sie war sogar bereit, in Ausnahmefällen für eine halbe Stunde auf ihn aufzupassen, damit Trude rasch eine Besorgung machen konnte. Bärbel für ein Kilo Zucker oder ein Döschen Kondensmilch zu schicken brachte mehr Ärger als Erleichterung. Einmal vergaß Bärbel das Wechselgeld, einmal verlor sie unterwegs ein Fünfmarkstück, einmal brachte sie Puderzucker mit statt Gelierzucker, den Trude dringend für das Brombeergelee gebraucht hätte. Ben mitzunehmen, ihn vorher zu waschen und umzuziehen kostete Zeit, und wenn Trude in Eile war, riskierte sie es, ihn mit Bärbel allein zu lassen.
     
    An einem Mittwochnachmittag im September 79 wollte Trude nur rasch zu dem kleinen Supermarkt an derKirchstraße. Bärbel saß noch über einer Schularbeit. Ben spielte auf dem Hof mit seiner Puppe, badete sie in der Regentonne und war nass bis auf die Haut. Trude gab die Anweisung, ihn im Auge zu behalten, es dauere nicht lange, und schwang sich auf ihr Fahrrad. Kurz nach ihr verließ auch Anita den Hof und schloss das Tor nicht ordnungsgemäß hinter sich.
    Trude stand noch an der Kasse und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen – die Kassiererin unterhielt sich mit einer neu zugezogenen Kundin über das Mietshaus am Lerchenweg und machte keine Anstalten, Trude abzukassieren   –, als Bärbel auftauchte.

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