Der Puppengräber
die sich in seinem Schoß zusammengerollt hatte und ihn anblinzelte. Trude schien es, als halte er die Luft an. Wenn Hilde verlangte, er solle die Katze streicheln, legte er dem Tier seine Hand ins Genick, sodass sie fürchtete, er könne irgendwann richtig zudrücken.
Es war im Mai 80, als Trudes Befürchtungen Realität wurden und sie auf drastische Weise begreifen musste, dass jede Nachlässigkeit ihre Strafe fand. Es geschah an einem Freitag. Auf dem Marktplatz legten die Schausteller letzte Hand an das Karussell und die Buden. In allen Häusern wurde gewischt, poliert und die frisch gewaschenen Fahnen aufgebügelt.
Am Vormittag ging Trude in den Hühnerstall, um eine alte Henne für die Festtagssuppe auszusuchen. Ben trottete wie so oft neben ihr her. Und Trude hatte plötzlichdas Bedürfnis, ihm eine Freude zu machen. Seine größte Freude war nun einmal, kleinen, lebendigen Wesen nachzurennen. Dass er nichts einfangen durfte, was größer als ein Käfer oder eine Raupe war, hatte Jakob ihm eingebläut. Und Trude erlaubte es ihm, weil sie an dem Tag ein wenig kurzatmig und er so flink war und sich vor Eifer überschlug, wenn sie fragte: «Willst du mir helfen?»
Sie zeigte ihm die für den Kochtopf bestimmte Henne und lobte ihn gebührend, als er sie ihr brachte. Er schaute verwundert zu, wie sie dem Tier den Hals umdrehte. Und kaum war das Huhn in ihren Händen erschlafft, rannte er zurück in den Stall, schnappte sich eine junge Legehenne, brach ihr das Genick und legte sie Trude mit erwartungsvoller Miene in den Schoß.
Hätte Trude sich in dem Moment entschließen können, ihn zu verprügeln, wäre vielleicht einiges anders gekommen. Aber wie hätte sie ihn schlagen können, wo er ihr nur eine Freude hatte machen wollen? Sie rupfte beide Hühner und schlitzte sie auf. Schockiert vom eigenen Leichtsinn und seiner Wieselhaftigkeit entfernte sie die Innereien.
Vielleicht war es der Ausdruck auf ihrem Gesicht, der Ben in Verwirrung stürzte. Zweimal erkundigte er sich mit schiefgelegtem Kopf: «Fein macht?» Als Trude nicht antwortete, fragte er unbehaglich: «Finger weg?» Es waren damals die einzig verständlichen Worte, die er über die Lippen brachte. Es war seine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, erlaubt und verboten.
«Ja, ja», sagte Trude unwirsch. «Finger weg! Das war sehr böse. Fangen hatte ich gesagt, nur fangen, nicht totmachen. Totmachen darf nur ich. Höchstens noch der Vater und sonst niemand. Merk dir das. Wenn du es nochmal tust, gibt es Haue, aber feste mit dem Stock.»
Am Nachmittag spielte er im Hof, während Trudesich um die Fenster kümmerte. Anita und Bärbel hatten das Haus kurz nach Mittag verlassen. Alle zwei, drei Minuten ließ Trude Eimer und Ledertuch stehen, ging zur Küchentür und schaute nach, was er trieb. Einmal sah sie ihn am Riegel des Hühnerstalls fummeln. «Finger weg!», rief sie. Er schaute sie an wie ein ertappter Sünder und trabte zur anderen Hofseite hinüber.
Beim zweitenmal sah sie ihn an der Regentonne matschen und nahm an, dass er sich dort eine Weile beschäftigte. Doch als sie zehn Minuten später auf den Hof schaute, war von ihm nichts mehr zu sehen.
Von böser Vorahnung getrieben, stürzte sie zum Hühnerstall. Sie befürchtete ein Massaker. Doch die Tür war genauso verriegelt wie das Hoftor. Das Scheunentor dagegen stand offen. Und damit hatte Trude nicht gerechnet, wo er sich so vor den Katzen fürchtete.
Aber Trude rechnete damals mit vielem nicht. Nicht mit seinem Gedächtnis und nicht mit dem Erfindungsreichtum von Albert Kreßmann. Albert hatte herausgefunden, dass Katzen jedem Wassertröpfchen aus dem Weg gehen. Sein neues Wissen hatte er ebenso an Ben weitergereicht wie die Fähigkeit, eine Wasserpistole an der Regentonne zu füllen. Und da Thea ihm gerade eine neue Pistole gekauft hatte, hatte Albert die alte an Ben verschenkt, der sie zwar meist als Durstlöscher nutzte, aber manchmal spritzte er auch ein wenig damit herum.
Während Trude das Schlafzimmerfenster in dem Glauben putzte, dass er nur im Wasser matschte, füllte er wohl das Plastikding an der Regentonne. Anschließend muss er das schwere Scheunentor zur Seite gedrückt, sich durch den Spalt gezwängt und mit klopfendem Herzen auf die Angreifer gewartet haben. Als nichts geschah, machte er sich auf den Weg.
Trude glaubte, sein Ziel zu kennen, die Gemeindewiese.Dort war er nicht. Sie lief in die andere Richtung bis zur Rückseite des Lässler-Hofs. Dahinter begann
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