Der Puppengräber
schlagartig. Und das war noch einer der relativ harmlosen Vorfälle gewesen.
Es gab andere, die wogen schwerer. Niemand hatte vergessen, dass Bruno in jungen Jahren hinter Marlene Jensens Mutter her gewesen war wie der Teufel hinter der armen Seele. Und er war auch vor brutaler Gewalt nicht zurückgeschreckt. Dass Paul Lässler ihn sich einmal zur Brust genommen hatte, wie er beim Schützenfest im September 69 erzählte, als Jakob Schlösser aus einem Eimerchen voller Nieten für Trude den Hauptgewinn zog, hatte leider nichts genutzt.
Anfang Oktober 69 hatte Paul sich Bruno ein zweites Mal vorknöpfen müssen. Paul sah es nun einmal entschieden lieber, dass seine Schwester mit Erich Jensen ausging. Und Bruno Kleu störte diese Beziehung gewaltig. Keine Gelegenheit ließ er sich entgehen, Maria zu belästigen. Beim ersten Mal hatte Paul es bei einer eindringlichen Ermahnung bewenden lassen. Beim zweitenmal war erhandgreiflich geworden. Bruno war tagelang mit einem blauen Auge und dicker Lippe herumgelaufen und hatte fürchterliche Rache geschworen.
Und an einem Abend Ende Oktober 69 war Maria überfallen und beinahe vergewaltigt worden. Laut der offiziellen Version hatte eine vermummte Gestalt ihr aufgelauert und sie ins nächste Gebüsch gezerrt. Glücklicherweise stand dieses Gebüsch im Garten der alten Gerta Franken, sodass der zufällig mit seinem Schäferhund auf dem Feldweg vorbeikommende Heinz Lukka das Schlimmste verhindert hatte. Die vermummte Gestalt war unerkannt entkommen, aber niemand hatte jemals Zweifel an ihrer Identität gehegt.
Es waren damals ein paar Spekulationen laut geworden. Heinz Lukka sei ein bisschen zu spät gekommen, um das Allerschlimmste zu verhüten. Er hätte es nur unterbrechen können. Maria hätte aus Scham behauptet, ihren Angreifer nicht erkannt zu haben. Und der alte Kleu hätte Heinz Lukka mit einem größeren Geldbetrag überredet, sich dieser Aussage anzuschließen.
Nun brodelte die Gerüchteküche wieder. Obwohl Bruno Kleu dafür gesorgt hatte, dass sein Sohn sich aus dem Dorf fernhielt, solange er ein Veilchen in seinem Gesicht trug, waren die Spuren der Prügelei vor der Diskothek nicht allen verborgen geblieben. Da niemand wusste, wem Dieter diese Spuren zu verdanken hatte, machte sich jeder seine Gedanken.
Inzwischen glaubte niemand mehr daran, Marlene Jensen lebend wiederzusehen. Nur Thea Kreßmann vertrat nach wie vor die Ansicht, das Mädchen sei ausgerissen, um Erich und Maria ein paar schlaflose Nächte zu bereiten. Aber Thea fand nicht einmal mehr bei ihrem Mann Gehör. Richard erklärte barsch, sie rede wieder Blödsinn und man dürfe zwei Unbekannte nicht von jedemVerdacht freisprechen, nur weil der einzig aufmerksame Zeuge selbst nicht ganz astrein sei.
Mit den in bester Absicht ausgesprochenen Worten erreichte Richard Kreßmann das genaue Gegenteil. Der Ausdruck astrein war der Tropfen, der für Bruno Kleu das Fass zum Überlaufen brachte. Es wäre wohl zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern gekommen, hätte nicht Renate in aller Eile Kuchen und Kaffee bezahlt, nach Brunos Arm gegriffen und ihn zum Gehen genötigt.
Bruno kochte vor Wut. Und er schäumte über, als Renate ihn auf der Straße fragte: «Wo warst du eigentlich letzten Samstag?»
Einige Gäste im Café sahen, dass Bruno unvermittelt ausholte und seiner Frau ins Gesicht schlug, dass Renate in Tränen ausbrach, dass der fünfzehnjährige Heiko die Faust ballte und seinem Vater drohte. Dann griff Heiko nach Renates Arm und ging mit ihr in die eine Richtung davon. Während Bruno noch sekundenlang auf einem Fleck stand, um dann mit weitausholenden Schritten in die andere Richtung zu verschwinden.
Zu diesem Zeitpunkt war Ben noch in seinem Zimmer eingesperrt. Anfangs war er ruhig gewesen. Er hatte ein paar Stunden geschlafen, nachdem Jakob mit den beiden Gläsern das Zimmer verlassen hatte. Dann hatte Trude ihn zum Mittagessen geholt. Als er danach hinauswollte, hatte sie ihn festgehalten. «Heute nicht, Ben.»
Wenn er gewollt hätte, hätte er sich mit wenig Kraft aus ihrem Griff befreien können. Doch seiner Mutter wehzutun wäre gewesen wie Schnitte ins eigene Fleisch. Niemand verletzte die Hand, die Nahrung gab. Was sein Vater für Liebe hielt, war Instinkt, der Drang zu überleben.
Er hätte auch gehen können, als sie seinen Arm losließ. Sie hatte schon mehr als einmal gesagt: «Heute nicht, Ben.» Oder: «Du musst jetzt bei mir bleiben.» Er war
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